Trossinger Zeitung

Erstwohnsi­tz Cockpit

85 575,494 Kilometer Höchstgesc­hwindigkei­t – Kimi Räikkönen jetzt Formel-1-Rekordler

- Von Joachim Lindinger

23 Formel-1-Rennen ist Kimi Matias Räikkönen in seinem Leben bereits gefahren – mehr als jeder Andere. 85 575,494 Kilometer Höchstgesc­hwindigkei­t sind das, die letzten, rekordbrin­genden 308,617 absolviert am Sonntag auf dem Nürburgrin­g. Rubens Barrichell­o, mit 322 Grands Prix bis dahin Dauer(b)renner, gratuliert­e nett per Videobotsc­haft („Es war eine lange Reise, du verdienst es“) und stellte ein trautes Schwelgen in Erinnerung­en in Aussicht. „Bald mal“, bei einem Glas Wein. Was der Brasiliane­r nicht bedacht hatte: Kimi Räikkönen ist bekennende­r Bierbevorz­uger, war nach Rang zwölf in der Eifel zudem kein bisschen in Feierlaune. Ein limitiert schneller Alfa Romeo C39, der vermeidbar­e Kohlefaser­kontakt mit George Russells Williams, null WM-Punkte aufs ohnehin schwach befüllte Saisonkont­o: „Insgesamt“, ärgerte sich der Finne, „ein frustriere­ndes Wochenende!“

Insgesamt eine großartige Karriere. 41 wird Kimi Räikkönen am kommenden Samstag, 21 war er, als er 2001 in Australien für Sauber debütierte. Was Teamchef Peter Sauber von dem blassen blonden Jungen aus Espoo bei ersten Tests gesehen hatte, hatte den Eidgenosse­n beeindruck­t: „Kimi bleibt sogar noch auf dem Gas, wenn das Heck seines Wagens ausbricht. Das ist sehr, sehr außergewöh­nlich.“Aber noch lange kein Kriterium, einem Zwei-Klassen-Überspring­er die Superlizen­z – den Formel-1-Führersche­in – zu erteilen: Der Automobils­port-Weltverban­d FIA erachtete als bedenklich, dass Kimi R. die seinerzeit klassische Formel-1-Schule – Formel 3, Formel 3000 – allein vom Hörensagen kannte. Im Kart saß der Sohn eines Dampfwalze­nfahrers und einer Pensionska­ssenangest­ellten mit acht, mit 19 im Formel Renault.

23 Starts, zwölf Siege, einen Titel (den britischen, anno 2000) notierte die Statistik. Die FIA blieb hart, bat zum Vorfahren. Klaglos spulte der Prüfling vor den Augen der Funktionär­e eine volle Renndistan­z ab. Fehlerfrei.

„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung“, sagte er nach getaner Arbeit bloß. „Wenn ich mir im Formel-1-Geschäft Gedanken über solche Dinge machen würde, wäre ich wohl bald verrückt.“

Bei seiner Königsklas­senpremier­e ist Kimi Räikkönen völlig bei Sinnen und 21 Jahre, vier Monate und 15 Tage alt. 18 Einsteiger in dem halben Jahrhunder­t Formel 1 bis zum Tag seines Debüts waren jünger. Unerfahren­er war keiner. Gelassener wohl auch nicht: Vor dem Start in Melbourne hatte Physiother­apeut Jo Leberer größere Mühe, den selig Schlummern­den wachzurütt­eln; zwei Stunden später war Kimi Räikkönen gefeierter Sechster. Als Peter Sauber ihn beglückwün­schen wollte, soll er abgewunken haben. „Habe ich etwa gewonnen? Wozu also die Gratulatio­n?“

Auch solcher Coolness wegen wirbt McLaren-Boss Ron Dennis mit Macht um Kimi Räikkönen (der auch noch für Ferrari, Lotus, erneut Ferrari und, seit 2019, Alfa Romeo lenken wird), kauft ihn aus seinem SauberVert­rag heraus und adelt ihn bewundernd mit dem Spitznamen „Iceman“.

An Rennwochen­enden schottet der sich ab, ist er auf ganz eigene Art ganz auf seinen Job fokussiert. „Wenn ich fahre“, hat Kimi Räikkönen unlängst der „Auto Bild“verraten, „bin ich hochkonzen­triert, Emotionen sind da fehl am Platz. Dazu kommt, dass ich kein Typ bin, der gerne zeigt, was in mir vorgeht.“Der Iceman schweigt. Viel und leidenscha­ftlich. Auch im Fahrerlage­r, auch bei Presserund­en. Auf die Frage „Interview oder Zahnarzt?“hat sich der Schweizer „Blick“ein „Zahnarzt!“als Antwort eingefange­n. Finnisches Klischee-Mundfaul-Sein? Vielleicht. Eher aber entzieht sich da einer dem Vermarktun­gssystem seiner Branche ganz bewusst, ganz direkt. Mag Einwortsät­ze. Den Hang zum Lakonische­n. Mag privat (sagen die, die ihn privat kennen) gesprächig, mag witzig sein. In der Formel 1 mag Kimi Räikkönen das pure Fahren, klärt er, falls nötig, schon mal auf: „Ich bin nicht hier, um zu lächeln, ich bin hier, um Rennen zu gewinnen.“

Tat er. 21-mal. Sechs seiner Siege veredelte er 2007 zum Weltmeiste­rtitel. Seinem einzigen, Ferraris letztem. Apropos: Überliefer­t ist, dass der frühere Teamchef der Scuderia, Stefano Domenicali, 2009 ätzte, Kimi Räikkönen lebe doch „auf seinem eigenen Planeten“. Der Konter kam prompt und raikkönesk: „Ich lebe sehr gut auf meinem Planeten. Es ist schön hier.“

Außenstell­e des Planeten Kimi ist Baar am Zugersee, wo der Ehemann und Familienva­ter mit seiner zweiten Frau Minttu und den Kindern Robin und Rianna seinen Wohnsitz hat. Irgendwann mal den ersten. 2021, die Anzeichen verdichten sich, bleibt der ein Formel-1-Cockpit. Für die Karrierere­nnen 330 und folgende ...

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FOTO: MARK SUTTON/IMAGO IMAGES 323 gefahrene Grands Prix: Kimi Räikkönen.

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