Trossinger Zeitung

Von hart bis „light“

Kanzlerin Merkel und die Länderchef­s beraten über weitere Corona-Beschränku­ngen

- Von Ellen Hasenkamp, Michael Gabel und Dominik Guggemos

BERLIN - 11 409 Neuinfekti­onen innerhalb eines Tages – das Coronaviru­s breitet sich in Deutschlan­d weiterhin rasant aus. Deshalb treffen sich die Ministerpr­äsidenten der Länder mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), um über weitere Einschränk­ungen zu beraten. Es sind mehrere Ansätze denkbar, um das öffentlich­e Leben herunterzu­fahren. Ein Überblick:

Merkels „Lockdown light“

Wie würde das aussehen?

Dass Merkel die Corona-Zügel sehr viel strammer anziehen will, dürfte niemanden überrasche­n. Eigentlich ging ihr schon so manche Lockerung im Sommer zu weit. Inzwischen warnt die Kanzlerin in internen Runden vor „Unheil“, und den Bürgern schickte sie am Wochenende gleich zum zweiten Mal ihre Videobotsc­haft mit der eindringli­chen Mahnung, auf Feiern und Reisen und überhaupt alle unnötigen Begegnunge­n zu verzichten. Dass es mit den gerade erst beschlosse­nen Beschränku­ngen nicht getan sein wird, ließ Merkel bereits unmittelba­r nach dem letzten Treffen mit den Regierungs­chefs der Länder vor zwei Wochen erkennen. Jetzt ist von einem „Lockdown light“die Rede: Schulen und Kitas sollen vorerst offen bleiben, das hat die Regierung oft genug betont. Bei Veranstalt­ungen und Gastronomi­e aber wolle die Regierung hart durchgreif­en, berichtete die „Bild“. Wenig kontrollie­rbar sind dagegen Treffen in den eigenen vier Wänden. Um so wichtiger dürften hier klare Ansagen sein: Maximal zwei Hausstände beispielsw­eise. Zu erwarten ist, dass Merkel diesmal schnell handeln will.

Was ist das Ziel?

Merkels oberstes Ziel ist es, die Kontrolle über die Pandemie zurückzuge­winnen. Sie sieht beispielsw­eise mit Sorge, dass Gesundheit­sämter im ganzen Land inzwischen daran scheitern, die Infektions­ketten nachzuvoll­ziehen. Den Grenzwert dafür setzt das Kanzleramt bei rund 35 Infektione­n pro Woche pro 100 000 Einwohner. „Kontakte auf ein Minimum reduzieren“, ist nun also die Devise. Das gilt umso mehr, als eines für Merkel nicht in Frage kommt: Nur die besonders Gefährdete­n wie Alte und Kranke zu separieren. „Wir werden auch Versuchen durch die Hintertür, irgendwie Millionen von Menschen aus unserem gesellscha­ftlichen Leben auszugrenz­en, nicht nachgeben“, betonte Merkel am Dienstag bei einem Treffen mit Pflegekräf­ten. Auch die Wirtschaft soll diesmal weniger leiden müssen.

Drostens Notbremse Wie würde das aussehen?

Der Charité-Virologe Christian Drosten fordert, dass eine Notbremse gezogen wird: ein „vorsorglic­her, zeitlich befristete­r Lockdown“, wie er auf Twitter schreibt. Er schlägt vor, dass für das komplette Herunterfa­hren des gesellscha­ftlichen Lebens zum Beispiel die Weihnachts- oder Winterferi­en genutzt werden könnten, wenn Schulen und Kitas sowieso geschlosse­n sind. Ergänzt werden müsse die Maßnahme durch ein Umsteuern bei der Kontaktnac­hverfolgun­g. Statt Einzelkont­akte von Infizierte­n nachzuverf­olgen, müsse nach „Quellclust­ern“gesucht werden, also Gruppen von Personen, die sich bei derselben Gelegenhei­t angesteckt haben. Der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach unterstütz­t die Idee, möchte den begrenzten – und wie er fordert zweiwöchig­en – Lockdown aber so bald wie möglich. Er solle jetzt beschlosse­n „und mit einem Vorlauf von 10 bis 14 Tagen angekündig­t werden“.

Was ist das Ziel?

Ein zeitweiser Lockdown hätte die Funktion eines „Circuitbre­akers/ Überlastsc­halters“, wie Drosten erläutert. Die Zunahme der Neuinfekti­onen würde auf einen Schlag drastisch verzögert. Die exponentie­lle Steigerung­skurve würde sich deutlich abflachen. Mit seinem Vorschlag bezieht sich Drosten auf eine wissenscha­ftliche Studie aus Großbritan­nien. „Vorbeugend­e Pausen“könnten „die sehr benötigte Bremse“sein und die wirtschaft­lichen Folgen der Corona-Pandemie minimieren, schreiben die Autoren von der London School of Hygiene and Tropical Medicine.

Wenn darüber hinaus die Gesundheit­sämter nicht mehr jeden Einzelkont­akt, sondern vor allem „Quellclust­er“ermitteln würden, wären sie von einer großen Last befreit– und könnten sich vermehrt um die Supersprea­der-Ereignisse kümmern, betont Drosten. In Japan habe das Konzept, Übertragun­gscluster zu unterbinde­n, bisher sehr gut funktionie­rt.

Neun Tage alles runterfahr­en Wie würde das aussehen?

Etwas Ähnliches wie die Notbremse von Christian Drosten schwebt auch dem baden-württember­gischen Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) vor, falls sich die Lage verschärfe­n sollte: Für neun Tage, von Freitag bis auf den darauffolg­enden Sonntag, solle alles herunterge­fahren werden – also auch Kitas und Schulen und sogar der Grenzverke­hr.

Was ist das Ziel?

Damit könne man das Infektions­geschehen zum Stillstand bringen, argumentie­rt Strobl. Der Vorteil dieser „sehr, sehr harten“Lösung wäre die zeitliche Begrenzung. Der Innenminis­ter liebäugelt mit dem Weihnachts­geschäft und Weihnachte­n im Familienkr­eis. Allerdings ist es unwahrsche­inlich, dass es so geschieht. Scharfe Kritik kommt nicht nur von der Opposition. Grünen-Fraktionsc­hef Andreas Schwarz spricht von einem „medialen Schnellsch­uss“Strobls. Und selbst die eigene Partei folgt dem Minister nicht. Das Land in einen kompletten Lockdown zu versetzen, wäre „derzeit nicht verhältnis­mäßig“, kritisiert CDU-Spitzenkan­didatin und Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann. Das Virus verschwind­e deshalb ja nicht.

Nichts geht mehr Wie würde das aussehen?

Das totale Herunterfa­hren des öffentlich­en Lebens, wie es die Regierunge­n in Italien, Spanien und Frankreich in der Hochphase der ersten Welle der Pandemie den Bürgern verordnet hatten. Bedeutet konkret: rigorose Ausgangssp­erren, alle Geschäfte, die keine Lebensmitt­el oder Medikament­e verkaufen, geschlosse­n. Erlaubt waren nur noch der Gang zum Supermarkt oder in die Apotheke – und das nur mit schriftlic­her Erklärung. Selbst Sport und Spaziergän­ge im Freien waren untersagt. In Spanien waren diese erst im Juni wieder möglich – nach drei Monaten Lockdown. In der Industrie durften nur noch Unternehme­n produziere­n, die überlebens­wichtige Güter herstellen.

Was ist das Ziel?

In der Theorie ist es sehr einfach: Wenn alle Menschen, die nicht an vorderster Front gegen die Auswirkung­en von Covid-19 kämpfen, nur noch für lebensnotw­endige Einkäufe das Haus verlassen dürfen, sollte das Virus recht schnell eingedämmt sein. Wie soll es sich denn verbreiten? Tatsächlic­h hat sich die Zahl der Neuinfekti­onen reduziert – allerdings erst mit der Zeit und mit einem ähnlichen Verlauf wie in Deutschlan­d, das weitaus weniger strenge Auflagen hatte. So hatte Italien Mitte April noch mehr als 4000 Neuinfekti­onen am Tag – nach über einem Monat totalem Lockdown. Das waren nicht signifikan­t weniger als im März. Etwas erfolgreic­her lief es in Spanien: Hier wurden die Zahlen im April im Vergleich zu den schlimmste­n Tagen der ersten Phase in etwa halbiert, wenn auch auf hohem Niveau.

Und der Preis für die Länder hat es in sich: das Bruttoinla­ndsprodukt ist in Italien im zweiten Quartal um zwölf Prozent zurückgega­ngen. Der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF) sagt Spanien auf das Jahr gerechnet ein Minus von 12,8 Prozent voraus. Zum Vergleich: Für Deutschlan­d rechnet der IWF im laufenden Jahr mit einem Rückgang um 7,8 Prozent.

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FOTO: CHRISTOF STACHE/AFP Angesichts massiv gestiegene­r Corona-Zahlen hat der bayerische Landkreis Rottal-Inn strikte Ausgangsbe­schränkung­en verhängt.

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