Von hart bis „light“
Kanzlerin Merkel und die Länderchefs beraten über weitere Corona-Beschränkungen
BERLIN - 11 409 Neuinfektionen innerhalb eines Tages – das Coronavirus breitet sich in Deutschland weiterhin rasant aus. Deshalb treffen sich die Ministerpräsidenten der Länder mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), um über weitere Einschränkungen zu beraten. Es sind mehrere Ansätze denkbar, um das öffentliche Leben herunterzufahren. Ein Überblick:
Merkels „Lockdown light“
Wie würde das aussehen?
Dass Merkel die Corona-Zügel sehr viel strammer anziehen will, dürfte niemanden überraschen. Eigentlich ging ihr schon so manche Lockerung im Sommer zu weit. Inzwischen warnt die Kanzlerin in internen Runden vor „Unheil“, und den Bürgern schickte sie am Wochenende gleich zum zweiten Mal ihre Videobotschaft mit der eindringlichen Mahnung, auf Feiern und Reisen und überhaupt alle unnötigen Begegnungen zu verzichten. Dass es mit den gerade erst beschlossenen Beschränkungen nicht getan sein wird, ließ Merkel bereits unmittelbar nach dem letzten Treffen mit den Regierungschefs der Länder vor zwei Wochen erkennen. Jetzt ist von einem „Lockdown light“die Rede: Schulen und Kitas sollen vorerst offen bleiben, das hat die Regierung oft genug betont. Bei Veranstaltungen und Gastronomie aber wolle die Regierung hart durchgreifen, berichtete die „Bild“. Wenig kontrollierbar sind dagegen Treffen in den eigenen vier Wänden. Um so wichtiger dürften hier klare Ansagen sein: Maximal zwei Hausstände beispielsweise. Zu erwarten ist, dass Merkel diesmal schnell handeln will.
Was ist das Ziel?
Merkels oberstes Ziel ist es, die Kontrolle über die Pandemie zurückzugewinnen. Sie sieht beispielsweise mit Sorge, dass Gesundheitsämter im ganzen Land inzwischen daran scheitern, die Infektionsketten nachzuvollziehen. Den Grenzwert dafür setzt das Kanzleramt bei rund 35 Infektionen pro Woche pro 100 000 Einwohner. „Kontakte auf ein Minimum reduzieren“, ist nun also die Devise. Das gilt umso mehr, als eines für Merkel nicht in Frage kommt: Nur die besonders Gefährdeten wie Alte und Kranke zu separieren. „Wir werden auch Versuchen durch die Hintertür, irgendwie Millionen von Menschen aus unserem gesellschaftlichen Leben auszugrenzen, nicht nachgeben“, betonte Merkel am Dienstag bei einem Treffen mit Pflegekräften. Auch die Wirtschaft soll diesmal weniger leiden müssen.
Drostens Notbremse Wie würde das aussehen?
Der Charité-Virologe Christian Drosten fordert, dass eine Notbremse gezogen wird: ein „vorsorglicher, zeitlich befristeter Lockdown“, wie er auf Twitter schreibt. Er schlägt vor, dass für das komplette Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens zum Beispiel die Weihnachts- oder Winterferien genutzt werden könnten, wenn Schulen und Kitas sowieso geschlossen sind. Ergänzt werden müsse die Maßnahme durch ein Umsteuern bei der Kontaktnachverfolgung. Statt Einzelkontakte von Infizierten nachzuverfolgen, müsse nach „Quellclustern“gesucht werden, also Gruppen von Personen, die sich bei derselben Gelegenheit angesteckt haben. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach unterstützt die Idee, möchte den begrenzten – und wie er fordert zweiwöchigen – Lockdown aber so bald wie möglich. Er solle jetzt beschlossen „und mit einem Vorlauf von 10 bis 14 Tagen angekündigt werden“.
Was ist das Ziel?
Ein zeitweiser Lockdown hätte die Funktion eines „Circuitbreakers/ Überlastschalters“, wie Drosten erläutert. Die Zunahme der Neuinfektionen würde auf einen Schlag drastisch verzögert. Die exponentielle Steigerungskurve würde sich deutlich abflachen. Mit seinem Vorschlag bezieht sich Drosten auf eine wissenschaftliche Studie aus Großbritannien. „Vorbeugende Pausen“könnten „die sehr benötigte Bremse“sein und die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie minimieren, schreiben die Autoren von der London School of Hygiene and Tropical Medicine.
Wenn darüber hinaus die Gesundheitsämter nicht mehr jeden Einzelkontakt, sondern vor allem „Quellcluster“ermitteln würden, wären sie von einer großen Last befreit– und könnten sich vermehrt um die Superspreader-Ereignisse kümmern, betont Drosten. In Japan habe das Konzept, Übertragungscluster zu unterbinden, bisher sehr gut funktioniert.
Neun Tage alles runterfahren Wie würde das aussehen?
Etwas Ähnliches wie die Notbremse von Christian Drosten schwebt auch dem baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl (CDU) vor, falls sich die Lage verschärfen sollte: Für neun Tage, von Freitag bis auf den darauffolgenden Sonntag, solle alles heruntergefahren werden – also auch Kitas und Schulen und sogar der Grenzverkehr.
Was ist das Ziel?
Damit könne man das Infektionsgeschehen zum Stillstand bringen, argumentiert Strobl. Der Vorteil dieser „sehr, sehr harten“Lösung wäre die zeitliche Begrenzung. Der Innenminister liebäugelt mit dem Weihnachtsgeschäft und Weihnachten im Familienkreis. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass es so geschieht. Scharfe Kritik kommt nicht nur von der Opposition. Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz spricht von einem „medialen Schnellschuss“Strobls. Und selbst die eigene Partei folgt dem Minister nicht. Das Land in einen kompletten Lockdown zu versetzen, wäre „derzeit nicht verhältnismäßig“, kritisiert CDU-Spitzenkandidatin und Kultusministerin Susanne Eisenmann. Das Virus verschwinde deshalb ja nicht.
Nichts geht mehr Wie würde das aussehen?
Das totale Herunterfahren des öffentlichen Lebens, wie es die Regierungen in Italien, Spanien und Frankreich in der Hochphase der ersten Welle der Pandemie den Bürgern verordnet hatten. Bedeutet konkret: rigorose Ausgangssperren, alle Geschäfte, die keine Lebensmittel oder Medikamente verkaufen, geschlossen. Erlaubt waren nur noch der Gang zum Supermarkt oder in die Apotheke – und das nur mit schriftlicher Erklärung. Selbst Sport und Spaziergänge im Freien waren untersagt. In Spanien waren diese erst im Juni wieder möglich – nach drei Monaten Lockdown. In der Industrie durften nur noch Unternehmen produzieren, die überlebenswichtige Güter herstellen.
Was ist das Ziel?
In der Theorie ist es sehr einfach: Wenn alle Menschen, die nicht an vorderster Front gegen die Auswirkungen von Covid-19 kämpfen, nur noch für lebensnotwendige Einkäufe das Haus verlassen dürfen, sollte das Virus recht schnell eingedämmt sein. Wie soll es sich denn verbreiten? Tatsächlich hat sich die Zahl der Neuinfektionen reduziert – allerdings erst mit der Zeit und mit einem ähnlichen Verlauf wie in Deutschland, das weitaus weniger strenge Auflagen hatte. So hatte Italien Mitte April noch mehr als 4000 Neuinfektionen am Tag – nach über einem Monat totalem Lockdown. Das waren nicht signifikant weniger als im März. Etwas erfolgreicher lief es in Spanien: Hier wurden die Zahlen im April im Vergleich zu den schlimmsten Tagen der ersten Phase in etwa halbiert, wenn auch auf hohem Niveau.
Und der Preis für die Länder hat es in sich: das Bruttoinlandsprodukt ist in Italien im zweiten Quartal um zwölf Prozent zurückgegangen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) sagt Spanien auf das Jahr gerechnet ein Minus von 12,8 Prozent voraus. Zum Vergleich: Für Deutschland rechnet der IWF im laufenden Jahr mit einem Rückgang um 7,8 Prozent.