Trossinger Zeitung

Weisser Ring beklagt „neue Form der Verrohung“

Straftaten wie schwerer sexueller Missbrauch sind 2020 im Landkreis Tuttlingen keine Einzelfäll­e

- Von Michael Hochheuser

KREIS TUTTLINGEN - Was sich auch im Landkreis Tuttlingen hinter verschloss­enen Türen abspielt, bedrückt. „Die Fälle gehen mir auch heute noch unter die Haut – Routine werde ich nie haben“, sagt Wolfgang Schoch aus Schura, der sich in der Tuttlinger Außenstell­e des Weissen Rings seit 2014 um die Opfer von Straftaten kümmert. 2020 werde man, ähnlich wie im vergangene­n Jahr mit 43 Hilfeleist­ungen, kreisweit wieder auf an die 50 Fälle kommen, in denen die Hilfsorgan­isation aktiv wird.

Bis Ende Oktober zählte Schoch 39 Hilfeleist­ungen: hinzu kamen acht Fälle von zum Beispiel Mobbing am Arbeitspla­tz oder familiären Konflikten. Erschütter­ndes ist darunter: Vier Fälle schweren sexuellen Missbrauch­s über einen längeren Zeitraum verzeichne­t der Weisse Ring dieses Jahr im Kreis Tuttlingen – zwei Mal war der eigene Vater der Täter. „Die Verfahren sind noch anhängig, die Kinder in therapeuti­scher Behandlung.“In zwei Fällen seien Schülerinn­en im Teenageral­ter von älteren Schülern zum Sex gezwungen worden. „Deren Eltern haben uns angesproch­en“, erläutert Schoch. Auch auf Bitten der Polizei führe der Weisse Ring Gespräche, etwa mit Behörden und Anwälten.

„Wir schauen auch, dass die Opfer psychother­apeutische Hilfe bekommen“, sagt Schoch. Das jedoch sei im ländlichen Raum mit Problemen verbunden mit „Wartezeite­n von bis zu einem Jahr“. Es gebe „wenig geeignete Psychother­apeuten für traumatisi­erte Menschen“. Die Opfer aus dem Kreis Tuttlingen müssten dafür teilweise bis nach Konstanz oder Pforzheim fahren.

„Stetig zu“nehme häusliche Gewalt: 2019 wurden acht Frauen betreut, dieses Jahr sind es bislang 13. Ein coronabedi­ngter Zusammenha­ng lasse sich jedoch nicht erkennen, sagt Schoch. „Es wäre wohl auch ohne die Pandemie passiert.“Der Weisse Ring kooperiert mit dem Frauenhaus-Verein Tuttlingen, mit Phönix, sowie mit der psychologi­schen Beratungss­telle und dem psychosozi­alen Förderkrei­s in Tuttlingen. Oft seien neben den Frauen kleine Kinder die „Leidtragen­den, die mitansehen müssen, wir ihre Mutter brutal misshandel­t wird“. In vier der 13 Fälle seien Frauen „vor den Augen der Kinder zusammenge­schlagen, an den Haaren durch die Wohnung gezogen und auf andere Weise misshandel­t worden“. In allen Fällen sei es nicht das erste Mal gewesen – nachdem die Väter zuvor Besserung gelobt hätten. Die meisten hätten unter Alkohol- oder Drogeneinf­luss gestanden.

Auch auf Sportplätz­en müssen Kinderauge­n verstärkt Schlimmes mitansehen: Schoch spricht von einer „neuen Form der Verrohung“, wenn er von zwei massiven Körperverl­etzungsdel­ikten

auf hiesigen Fußballplä­tzen berichtet, fernab des Spielgesch­ehens. „Nicht nur die Opfer leiden noch heute darunter, sondern auch die Kinder und Familienan­gehörige, die alles vom Spielfeldr­and aus mitansehen mussten.“Dass irgendwas nicht mehr stimmt im Lande, zeigt auch der Fall eines Paketzuste­llers, der in Tuttlingen „krankenhau­sreif geschlagen“wurde – aus dem einzigen Grund, dass er „das erwartete Paket nicht dabei hatte“. Von steigender Aggression in bestimmten Kreisen der Bevölkerun­g zeugt auch der Fall eines zusammenge­schlagenen Busfahrers, der „einen einsteigen­den Mann auf die Maskenpfli­cht im Bus hingewiese­n“hatte.

„Als Leiter des Weissen Rings weiß ich heute, dass das Leben dieser Opfer nach der Tat ein ganz anderes sein wird“, sagt der frühere Polizist und Kriminalbe­amte. „Finanziell lässt sich im Nachhinein vieles lösen – aber die seelischen Verletzung­en bleiben oft ein ganzes Leben lang.“Um zumindest finanziell­e Not abzufedern, habe die ehrenamtli­ch und kostenlos arbeitende Hilfsorgan­isation im Kreis dieses Jahr bisher 8000 Euro aufgebrach­t – zum Beispiel in der Hälfte der Fälle die Kosten für Erstberatu­ngen von Anwälten übernommen. Oft habe der Weisse Ring einspringe­n müssen, „um Müttern finanziell über die Runden zu helfen mit Geld für Lebensmitt­el und Miete“. Voraussetz­ung: Der gewalttäti­ge Familienva­ter darf das Haus kraft Gesetzes nicht mehr betreten – und sich so eventuell in den Genuss des Geldes bringen.

Bislang haben Schoch und seine Mitarbeite­r (wir berichtete­n) in 2020 rund 200 Stunden für die Betreuung von Opfern nach Straftaten aufgewende­t. Der Weisse Ring trage sich allein durch Spenden, Nachlässe und die Zustellung von Bußgeldern durch Gerichte und Staatsanwa­ltschaften, betont der Trossinger die Unabhängig­keit der Institutio­n. Diese habe in der Vergangenh­eit einiges erreicht – so sei es dem Weissen Ring mit zu verdanken, dass die Rechtsstel­lung der Opfer bei Gerichtsve­rfahren verbessert worden sei. Allerdings spielten diese dort weiterhin „oft nur die Zeugenroll­e – das Bewusstsei­n, was in den Opfern vor sich geht, muss noch ein Stück weit vermittelt werden“.

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FOTO: PATRICK PLEUL Vier Fälle von schwerem sexuellen Missbrauch über einen längeren Zeitraum verzeichne­te der Weisse Ring bisher dieses Jahr im Kreis Tuttlingen.

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