Weisser Ring beklagt „neue Form der Verrohung“
Straftaten wie schwerer sexueller Missbrauch sind 2020 im Landkreis Tuttlingen keine Einzelfälle
KREIS TUTTLINGEN - Was sich auch im Landkreis Tuttlingen hinter verschlossenen Türen abspielt, bedrückt. „Die Fälle gehen mir auch heute noch unter die Haut – Routine werde ich nie haben“, sagt Wolfgang Schoch aus Schura, der sich in der Tuttlinger Außenstelle des Weissen Rings seit 2014 um die Opfer von Straftaten kümmert. 2020 werde man, ähnlich wie im vergangenen Jahr mit 43 Hilfeleistungen, kreisweit wieder auf an die 50 Fälle kommen, in denen die Hilfsorganisation aktiv wird.
Bis Ende Oktober zählte Schoch 39 Hilfeleistungen: hinzu kamen acht Fälle von zum Beispiel Mobbing am Arbeitsplatz oder familiären Konflikten. Erschütterndes ist darunter: Vier Fälle schweren sexuellen Missbrauchs über einen längeren Zeitraum verzeichnet der Weisse Ring dieses Jahr im Kreis Tuttlingen – zwei Mal war der eigene Vater der Täter. „Die Verfahren sind noch anhängig, die Kinder in therapeutischer Behandlung.“In zwei Fällen seien Schülerinnen im Teenageralter von älteren Schülern zum Sex gezwungen worden. „Deren Eltern haben uns angesprochen“, erläutert Schoch. Auch auf Bitten der Polizei führe der Weisse Ring Gespräche, etwa mit Behörden und Anwälten.
„Wir schauen auch, dass die Opfer psychotherapeutische Hilfe bekommen“, sagt Schoch. Das jedoch sei im ländlichen Raum mit Problemen verbunden mit „Wartezeiten von bis zu einem Jahr“. Es gebe „wenig geeignete Psychotherapeuten für traumatisierte Menschen“. Die Opfer aus dem Kreis Tuttlingen müssten dafür teilweise bis nach Konstanz oder Pforzheim fahren.
„Stetig zu“nehme häusliche Gewalt: 2019 wurden acht Frauen betreut, dieses Jahr sind es bislang 13. Ein coronabedingter Zusammenhang lasse sich jedoch nicht erkennen, sagt Schoch. „Es wäre wohl auch ohne die Pandemie passiert.“Der Weisse Ring kooperiert mit dem Frauenhaus-Verein Tuttlingen, mit Phönix, sowie mit der psychologischen Beratungsstelle und dem psychosozialen Förderkreis in Tuttlingen. Oft seien neben den Frauen kleine Kinder die „Leidtragenden, die mitansehen müssen, wir ihre Mutter brutal misshandelt wird“. In vier der 13 Fälle seien Frauen „vor den Augen der Kinder zusammengeschlagen, an den Haaren durch die Wohnung gezogen und auf andere Weise misshandelt worden“. In allen Fällen sei es nicht das erste Mal gewesen – nachdem die Väter zuvor Besserung gelobt hätten. Die meisten hätten unter Alkohol- oder Drogeneinfluss gestanden.
Auch auf Sportplätzen müssen Kinderaugen verstärkt Schlimmes mitansehen: Schoch spricht von einer „neuen Form der Verrohung“, wenn er von zwei massiven Körperverletzungsdelikten
auf hiesigen Fußballplätzen berichtet, fernab des Spielgeschehens. „Nicht nur die Opfer leiden noch heute darunter, sondern auch die Kinder und Familienangehörige, die alles vom Spielfeldrand aus mitansehen mussten.“Dass irgendwas nicht mehr stimmt im Lande, zeigt auch der Fall eines Paketzustellers, der in Tuttlingen „krankenhausreif geschlagen“wurde – aus dem einzigen Grund, dass er „das erwartete Paket nicht dabei hatte“. Von steigender Aggression in bestimmten Kreisen der Bevölkerung zeugt auch der Fall eines zusammengeschlagenen Busfahrers, der „einen einsteigenden Mann auf die Maskenpflicht im Bus hingewiesen“hatte.
„Als Leiter des Weissen Rings weiß ich heute, dass das Leben dieser Opfer nach der Tat ein ganz anderes sein wird“, sagt der frühere Polizist und Kriminalbeamte. „Finanziell lässt sich im Nachhinein vieles lösen – aber die seelischen Verletzungen bleiben oft ein ganzes Leben lang.“Um zumindest finanzielle Not abzufedern, habe die ehrenamtlich und kostenlos arbeitende Hilfsorganisation im Kreis dieses Jahr bisher 8000 Euro aufgebracht – zum Beispiel in der Hälfte der Fälle die Kosten für Erstberatungen von Anwälten übernommen. Oft habe der Weisse Ring einspringen müssen, „um Müttern finanziell über die Runden zu helfen mit Geld für Lebensmittel und Miete“. Voraussetzung: Der gewalttätige Familienvater darf das Haus kraft Gesetzes nicht mehr betreten – und sich so eventuell in den Genuss des Geldes bringen.
Bislang haben Schoch und seine Mitarbeiter (wir berichteten) in 2020 rund 200 Stunden für die Betreuung von Opfern nach Straftaten aufgewendet. Der Weisse Ring trage sich allein durch Spenden, Nachlässe und die Zustellung von Bußgeldern durch Gerichte und Staatsanwaltschaften, betont der Trossinger die Unabhängigkeit der Institution. Diese habe in der Vergangenheit einiges erreicht – so sei es dem Weissen Ring mit zu verdanken, dass die Rechtsstellung der Opfer bei Gerichtsverfahren verbessert worden sei. Allerdings spielten diese dort weiterhin „oft nur die Zeugenrolle – das Bewusstsein, was in den Opfern vor sich geht, muss noch ein Stück weit vermittelt werden“.