Wenn der Arzt nicht mehr kommt
Hausbesuche gehen insgesamt zurück – Doch es gibt Alternativen
STUTTGART - Hausarztmangel, geringe Entlohnung – und jetzt auch noch Corona: In Baden-Württemberg machen Ärzte zunehmend weniger Hausbesuche. Für den Südwesten spricht die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) von einem Rückgang der Hausbesuche von mehr als drei Millionen auf rund 2,8 Millionen zwischen 2017 und 2019. Zwar berücksichtigten diese Zahlen nicht die hausarztzentrierte Versorgung, bei der Hausbesuche in einer Pauschale inbegriffen sind, sagte ein Sprecher. Es gibt aber laut Hausärzteverband durchaus einen Schwund bei den Besuchen.
Dr. Bettina Boellaard, Hausärztin in Bad Saulgau und Vorsitzende der Kreisärzteschaft Sigmaringen, nennt zwei Gründe für den Rückgang: Geld und Zeit. „Ein Hausbesuch ist für einen Arzt ein Verlustgeschäft“, sagt sie. Rund 22 Euro könne man als Hausarzt dafür abrechnen. „Dafür würde sich ein Schlüsseldienst nicht einmal hinters Steuer setzen.“Doch vor allem sei die Zeit der entscheidende Faktor. „In der Zeit, die ich für einen Hausbesuch brauche, könnte ich in der Praxis viel mehr Patienten behandeln“, sagt sie und rechnet vor, was der Ärztemangel auf dem Land bedeutet: „Bei uns in Bad Saulgau gibt es drei Hausarztpraxen für 17 000 Einwohner. Da ist die Ressource Arzt einfach extrem kostbar.“
Dass ein Arzt zu den Patienten nach Hause komme, werde von denjenigen, die die Rahmenbedingungen schaffen, nicht wertgeschätzt, sagt sie. Dabei gebe es durchaus gute Gründe für einen Arztbesuch zu Hause. „Die Zeiten, in denen der Arzt die Leute besucht, um mit ihnen auch mal ein Stück Kuchen zu essen oder ein Schwätzle zu halten, sind lange vorbei. Aber es gibt einfach Situationen, in denen ein Patient wirklich nicht in die Praxis kommen kann. Dann ist ein Arztbesuch natürlich gerechtfertigt. Nur sollte der Arzt dann nicht auch noch draufzahlen müssen“, sagt sie.
„Bei den Hausbesuchen steht der Aufwand in keinem Verhältnis zur Entlohnung“, bestätigt der Sprecher des Südwest-Hausärzteverbandes, Manfred King. Zudem seien die Praxen so voll, dass es die Zeit nicht mehr hergebe, zu den Menschen zu fahren. „Es liegt auf der Hand, dass immer weniger Hausärzte mit immer mehr Patienten das aus logistischen und Zeitgründen nicht mehr machen können“, sagt er.
Der Rückgang von Hausbesuchen durch den Arzt ist auch bundesweit kein neues Phänomen. Laut Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung haben Ärzte im vergangenen Jahr 24,6 Millionen Hausbesuche absolviert, sechs Millionen weniger als im Jahr 2009. Längst wird deshalb versucht, über andere Lösungen den Mangel an Hausbesuchen zu kompensieren: So arbeiten in Baden-Württemberg inzwischen Tausende Medizinische Fachangestellte, die zu sogenannten Versorgungsassistenten in der Hausarztpraxis (Verah) oder Nicht-ärztlichen Praxisassistenten (Näpa) fortgebildet wurden.
Sie besuchen im Auftrag des Arztes Patienten, nehmen Blut ab, messen den Blutdruck oder setzen eine Spritze. Damit hätten die Patienten weiterhin einen zwischenmenschlichen Austausch und Betreuung durch vertrautes Praxispersonal, betont ein Sprecher der AOK BadenWürttemberg. Nach Angaben des Hausärzteverbands und der KVBW gibt es inzwischen über 3500 Verahs im Südwesten und rund 1300 Näpas. Letztere absolvierten 2018 immerhin schon über 65 500 Hausbesuche – 11,5 Prozent mehr als 2017. „Wenn es darum geht, bestimmte therapeutische Entscheidungen zu treffen, sind Verahs und Näpas natürlich nicht ausreichend ausgebildet. Viele dieser Entscheidungen muss dann doch ein Arzt treffen“, sagt Ärztin Boellaard. „Aber die Verahs und Näpas helfen uns in vielen Fällen, den Bedarf ein Stück weit zu decken.“
Das Geschehen habe sich gewandelt, bekräftigt auch der Sprecher der KVBW. Neben Näpas und Verahs werde auch immer bessere Technik weitere Möglichkeiten mit sich bringen, etwa Videosprechstunden. So nutzten Arztpraxen in Baden-Württemberg immer häufiger digitale Angebote, heißt es im KVBW-Bericht „Die ambulante medizinische Versorgung 2020“. Waren es im Februar 2020 nur neun Praxen in BadenWürttemberg, die eine Videosprechstunde anboten, so nutzten im Juni 2020 bereits mehr als 3800 Praxen diese Möglichkeit der Patientenversorgung. Zwar können Onlinesprechstunden schon länger abgehalten werden. Jedoch habe erst die Corona-Pandemie zu einer breiten Akzeptanz bei Patienten und Ärzten beigetragen, heißt es im Bericht.
Doch auch hier gibt es Grenzen, erklärt Ärztin Boellaard. „Bauchschmerzen sind zum Beispiel ein Symptom, das auf ganz viele unterschiedliche Krankheitsbilder hinweisen kann. Wenn man als Arzt herausfinden will, ob es sich um eine Blinddarmentzündung oder etwas anderes handelt, kommt man um eine körperliche Untersuchung nicht herum.“
Für Boellaard ist der ärztliche Hausbesuch trotz aller Schwierigkeiten kein Auslaufmodell. „Die Qualität des Gesundheitswesens bemisst sich nicht unbedingt an der Anzahl der ärztlichen Hausbesuche“, sagt sie. „Aber ein Gesundheitssystem ganz ohne diese Option ist sicherlich schlechter aufgestellt.“