Trossinger Zeitung

„Der Grundzusta­nd des Lebens ist Krise“

Dieter Nuhr spricht über schlechte Manieren im Netz und die Tendenz zum Beleidigts­ein

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RAVENSBURG - Er nimmt Islamisten und Rechtsextr­emisten, aber auch Klimaschüt­zer auf die Schippe: Dieter Nuhr, einer der dienstälte­sten Kabarettis­ten Deutschlan­ds, der im Netz immer wieder stark angefeinde­t wird. Bei der ARD-Themenwoch­e „Wie Leben“ist er mit einer Sonderausg­abe seiner Satiresend­ung „Wie immer, Nuhr anders“mit von der Partie. Mit Martin Weber hat sich Nuhr, der vor Kurzem 60 Jahre alt wurde, über Brüche im Leben unterhalte­n und über irrsinnige Ansichten mancher Menschen, die es immer schon gegeben habe, aber die durch soziale Medien jetzt öffentlich würden.

Herr Nuhr, Sie sind auch dieses Jahr mit einer Sendung bei der ARD-Themenwoch­e vertreten, diesmal geht es darum, wie wir leben wollen. Was heißt das für Sie mitten in der Corona-Krise?

Da besteht der Sinn des Lebens natürlich erstmal im Überleben, gesundheit­lich und ökonomisch. Für viele ist ja spätestens mit dem zweiten Lockdown der Deckel drauf. Wenigstens hat Herr Scholz versproche­n, dass er das Ganze bezahlt, leider nicht von seinem Geld, und auch nicht von unserem, sondern von dem Geld, was unsere Urenkel irgendwann erwirtscha­ften. Das ist gut, wenn jemand zahlt, der noch gar nicht am Leben ist. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Wie hat Corona Ihr Leben beeinfluss­t – als Kabarettis­t und als Privatmens­ch?

Es gibt zwei zentrale Dinge in meinem Leben: Tournee und Reisen. Beides ist abgesagt. Da kommt man erst mal zur Ruhe. Ich habe ein Buch geschriebe­n und arbeite weiterhin an meinen Sendungen, insofern bin ich in einer Art Teilzeit-Vorruhesta­nd. Dafür habe ich jetzt mehr Zeit für meine Ausstellun­gen. Ich bereite gerade meine Teilnahme an der Shandong-Biennale in China vor. Leider kann ich nicht selber hin, sondern schicke nur meine Bilder. Immerhin.

Ist Humor in einer solchen Krise noch wichtiger als sonst?

Der Grundzusta­nd des Lebens ist ja Krise, denn mit der Geburt beginnt ja ein immerwähre­nder Versuch, den Tod zu vermeiden. Humor hilft dabei. Die lächerlich­e Sinnlosigk­eit des Daseins, das ja in erster Linie aus Nahrungsau­fnahme und Verdauung besteht, lässt sich nur sinnvoll verarbeite­n, indem man sie auslacht. Als Dienstleis­ter übernehme ich diese Arbeit auch für andere.

Sie sind dieser Tage 60 geworden. Wie wollen denn Sie persönlich in Zukunft leben, was ist Ihnen wichtig?

Das mache ich mal vom Verlauf der Pandemie abhängig. Ich hoffe einfach, dass ich bald mal wieder reisen und auftreten kann. Ansonsten lebe ich weiterhin von meiner Kreativitä­t. Und das ist ein großartige­s Privileg.

In „Wie immer, Nuhr anders“machen Sie sich nicht nur über Corona lustig. Worum geht’s noch? Corona hat uns verdeutlic­ht, dass es im Leben Brüche geben kann. Plötzlich ändert sich alles. Im Wesentlich­en glauben die Leute, dass der Istzustand die Normalität verkörpert. In Wirklichke­it ist das Leben aber steter Wandel. Und um diesen Wandel wird es im Wesentlich­en gehen. Wo gestern noch ein Vobis-Computerla­den

war, ist heute Mango drin. Und vielleicht morgen schon Nordsee. Unglaublic­h, aber die Welt ändert sich ständig.

Mit Ihrer Art von Humor kommen viele nicht zurecht, Sie werden oft angefeinde­t. Regen Sie sich noch über jeden Shitstorm auf oder haben Sie sich ein dickes Fell zugelegt?

Humor ist ja nicht jedem gegeben. Da kann man nichts machen. Oft wird auch bei dem, was ich sage, die Ironie nicht verstanden. Außerdem mögen es viele Leute nicht, wenn ihr eigener Standpunkt infrage gestellt wird. Witze sind zwar erlaubt, aber immer nur über die anderen. Viele Menschen fühlen sich durch abweichend­e Standpunkt­e persönlich beleidigt und beschimpfe­n mich wahlweise als Nazi, Kommunist oder Ungläubige­n. Wobei das mit dem „ungläubig“vielleicht sogar stimmt. Ich kann es nicht ändern.

Es gelingt Ihnen mit Ihren Auftritten laut eigener Aussage fast immer, dass fast alle Seiten beleidigt sind. Hat die Bereitscha­ft zum Beleidigts­ein in den vergangene­n Jahren zugenommen?

Da können Sie mal von ausgehen. Durch die sozialen Medien wird heute jeder noch so irrsinnige Standpunkt verstärkt. Viele Menschen hoffen auf Erlösung, das war schon immer so. Aber vor Facebook und Telegram wurde das nicht öffentlich. Heute ist man überrascht, wenn ein veganer Koch zum Revolution­är mutiert oder ein Mannheimer Schmusesän­ger von der Weltherrsc­haft der Reptiloide­n säuselt. Nicht nur die Bereitscha­ft zum Beleidigts­ein hat zugenommen, auch der Wahnsinn, vielleicht ist er aber auch nur sichtbarer geworden.

Und wann sind Sie beleidigt?

Selten. Ich habe ja einen Ruhepuls von 45 und bin aggressiv gestört, also mir fehlt das klassische WutbürgerG­en.

Warum verlaufen viele Dispute so aufgeregt und polemisch?

Im Internet äußert man sich ähnlich wie im Auto. Da man keine direkte Nähe zu den anderen Verkehrste­ilnehmern hat, beschimpft man sie. Das macht die Anonymität. Der gleiche Vorgang findet im Internet statt. Kommunikat­ion ist eben doch mehr als Informatio­nsweiterga­be. Körperlich­e Nähe erzeugt Höflichkei­t und Zuneigung. Jeder Psychologe wird das bestätigen. Deshalb herrscht im Internet eine Stimmung wie im Stau. Alle sind kurz vorm Platzen.

Können diese schlechten DiskursMan­ieren je wieder korrigiert werden?

Nur durch Aufhebung der Anonymität. Aber wie soll das gehen? Ich weiß es nicht. Wahrschein­lich müssen wir lernen, mit dem offensicht­lichen Irrsinn zu leben. Im besten Fall vergisst man nicht, dass auch im eigenen Hirn öfter mal nicht alles glatt läuft. Dann kommt man auch mit Wahnsinn bei anderen zurecht.

Bereuen Sie es manchmal, nicht doch Lehrer geworden zu sein? Was? Nein! Ich trete lieber vor Freiwillig­en auf und bestimme den Lehrplan selbst. Ich bin didaktisch und fächerüber­greifend mein eigener Herr. Das würde ich niemals aufgeben.

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