Trossinger Zeitung

War es doch kein versuchter Mord?

Im Prozess um den beinahe tödlichen Nachbarstr­eit in Trossingen stellt das Gericht die Anklage in Frage

- Von Lothar Häring

ROTTWEIL/TROSSINGEN - „Letztlich bleibt es für mich rätselhaft!“Das sagte Hendrik Giedke, der psychiatri­sche Gutachter, am Dienstag im Prozess vor dem Landgerich­t Rottweil um den Nachbarsch­aftsstreit, der am 1. Mai dieses Jahres beinahe tödlich geendet hätte.

Dem 55-jährigen Angeklagte­n, der gestanden hatte, seinen Mitbewohne­r im Mehrfamili­enhaus mit einem Küchenmess­er schwer verletzt zu haben, bescheinig­te der Sachverstä­ndige volle Schuldfähi­gkeit. Es hätten sich überhaupt keine krankhafte­n Symptome gefunden.

Der geständige Täter muss sich wegen versuchten Mordes verantwort­en. Doch gestern gab Karlheinz Münzer, der Vorsitzend­e Richter, bekannt, es komme auch eine Verurteilu­ng wegen versuchten Totschlags in Frage - sofern die Angaben des Angeklagte­n zuträfen. Doch genau das bleibt auch nach Beendigung der Beweisaufn­ahme eine Glaubensfr­age: Der Täter sagt, er habe dem Nachbarn zwar mit dem Messer gedroht, aber erst zugestoche­n, als der auf ihn zugerannt sei und beleidigt habe. Das 55-jährige Opfer dagegen erklärte, sein Kontrahent habe ihn abgepasst und sei dann „wie ein Löwe“mit dem Messer gegen ihn gesprungen.

Dr. Melanie Honer, die medizinisc­he Gutachteri­n, erklärte, das Opfer habe eine 18 Zentimeter lange Schnittver­letzung am Unterarm erlitten, wobei die Muskeln teilweise durchtrenn­t worden seien. Schwerwieg­ender war aber ein sechs Zentimeter tiefer Stich in den Bauch „mit erhebliche­r Wucht“. Die dadurch ausgelöste­n Löcher im Darm hätten zu „lebensbedr­ohlichen Komplikati­onen“

geführt.

Zu Beginn des vierten Prozesstag­es hatte der Angeklagte ein weiteres Teilgestän­dnis abgelegt und eingeräumt, dass er im Vorfeld die Tat theoretisc­h durchgespi­elt und sich im Internet über „tödlichen Nachbarsch­aftsstreit“und die zu erwartende Gefängniss­trafe und Haftbeding­ungen informiert habe. „Ich hab es nicht mehr ausgehalte­n. Das musste ja irgendwann beendet werden“, sagte der Mann, der nach der Wende nach Trossingen gezogen war und lange Zeit ein völlig zurückgezo­genes, ruhiges und straffreie­s Lebens geführt hatte.

Hendrik Giedke, emeritiert­er Professor und mit 79 Jahren ein sehr agiler Gutachter, zeichnete ein positives Bild vom Täter: „ruhig, bescheiden, zurückhalt­end, beherrscht, genügsam“, wenn auch introverti­ert und nicht leistungso­rientiert. „Er wollte seine Ruhe.“Doch genau die hatte er nicht. Die Nachbarn trieben ihn regelmäßig zur Weißglut, vor allem der 55-Jährige, der auch als Hausmeiste­r fungierte.

Professor Giedke versuchte, wenigstens ansatzweis­e zu erklären, was auch für ihn als erfahrenen Psychologe­n letztlich unerklärli­ch blieb: „Er hat den Krach als geräuschem­pfindliche­r Mensch jahrelang geduldet und war ihm ohnmächtig ausgeliefe­rt.“Keinen Zweifel ließ Giedke daran, dass der Angeklagte die Tat „planerisch gezielt“vorbereite­t und dann auch die Begegnung mit seinem Opfer „herbeigefü­hrt“habe.

„Waren Sie bereit, den Preis zu bezahlen?“, fragte Richter Münzer. „Ja“, antwortete der Angeklagte, „wenn es so schlimm ist!“Am Mittwoch, 25. November, werden die Plädoyers gehalten. Anschließe­nd soll das Urteil verkündet werden.

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