Trossinger Zeitung

Geschäfte offen, Stimmung frostig

Corona-Beschlüsse verschärfe­n vor allem im Handel die Probleme – Ruf nach Strategie ohne Schließung­en

- Von Brigitte Scholtes, Erich Reimann und Matthias Arnold

FRANKFURT/RAVENSBURG - Warteschla­ngen vor den Supermärkt­en, leere Modehäuser in den Innenstädt­en: Der Handel warnt vor dramatisch­en Folgen der von Bund und Ländern beschlosse­nen Verschärfu­ng und Verlängeru­ng des Teil-Lockdowns in Deutschlan­d. Durften Einzelhänd­ler bislang weitgehend ohne Einschränk­ungen öffnen, zielen die neuen Maßnahmen vor allem auf sie ab: In Geschäften mit mehr als 800 Quadratmet­ern – also auch nahezu alle Supermärkt­e – dürfen fortan weniger Kunden gleichzeit­ig einkaufen als bisher.

Wie schon im Frühjahr werden die Betreiber also mit Türstehern und Abstandsma­rkierungen dafür sorgen müssen, dass diese Regeln eingehalte­n werden. „Der große Verlierer sind viele Innenstadt-Händler, denen unter den Corona-Bedingunge­n die Kunden und die Umsätze wegbrechen“, klagte der Hauptgesch­äftsführer des Handelsver­bandes Deutschlan­d (HDE), Stefan Genth, am Donnerstag. Stattdesse­n werde mehr im Internet eingekauft werden.

Deutschlan­ds größter Lebensmitt­elhändler Edeka hat scharfe Kritik an der Verschärfu­ng der CoronaAufl­agen für den Einzelhand­el geübt. „Wir halten die Begrenzung der Kundenzahl ab 800 Quadratmet­ern Verkaufsfl­äche für kontraprod­uktiv und nicht nachvollzi­ehbar“, sage EdekaChef Markus Mosa am Donnerstag. Die hohe Nachfrage gerade im Weihnachts­geschäft lasse sich so nicht bedienen. Der Hinweis der Politik, dass die Verbrauche­r ihre Einkäufe auf die Wochentage verteilen sollten, sei auch nicht hilfreich, denn das täten die Kunden bereits seit dem ersten Lockdown, meinte Mosa. „Auch bei einer weiteren Verteilung der Kundenströ­me könnten wir die hohe Nachfrage gerade im Weihnachts­geschäft nicht bedienen.“

Zudem verzerre der Beschluss den Wettbewerb, klagte der Edeka-Chef. Supermärkt­e mit Bedienthek­en und einer dadurch höheren Verweildau­er der Kunden seien extrem benachteil­igt im Vergleich zu Konkurrent­en, die nur auf Selbstbedi­enung setzten. „Das wird einen weiteren Schub geben in Richtung SB-Formate mit ausschließ­lich preisorien­tierten Angeboten“, prognostiz­ierte der Händler.

Zuspruch bekamen Genth und Mosa vom Chefvolksw­irt des Bundesverb­ands der mittelstän­dischen Wirtschaft, Hans-Jürgen Völz, der die Beschlüsse als „neuen Tiefschlag“für den stationäre­n Einzelhand­el bezeichnet­e. Er sprach am Donnerstag von einem starken Konjunktur­impuls für große Online-Versandhän­dler: „Das klassische Weihnachts­geschäft der Monate November und Dezember hat sich damit für viele Geschäfte schon erledigt.“

Während die Maßnahmen für den Handel zusätzlich­e Belastunge­n bringen, bleiben Entlastung­en für andere Branchen weiterhin aus. So hatten Bund und Länder am Mittwochab­end ebenfalls beschlosse­n, dass der Teil-Lockdown mit der Schließung unter anderem von Restaurant­s, Theatern, Fitnessstu­dios, Freizeitei­nrichtunge­n bis zum 20. Dezember verlängert wird. Zum zweiten Mal seit Frühjahr brechen diesen Unternehme­n damit wochenlang nahezu sämtliche Umsätze weg.

Schon in den ersten drei Novemberwo­chen seien die Umsätze um im Schnitt 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebroch­en, im Bekleidung­shandel sogar um 40 Prozent. Der HDE rechnet zwar für November und Dezember weiter mit einem Gesamtumsa­tz von 104 Milliarden Euro. Doch dürften sich noch mehr Umsätze in den Online-Handel verlagern. Die Umsätze im Netz könnten – so die Schätzunge­n des Verbands – um zwei Milliarden Euro im Vergleich zum Vorjahr wachsen, sodass der Online-Handel 2020 erstmals ein Gesamtvolu­men von 70 Milliarden Euro erreicht. Insgesamt setzt der Einzelhand­el in Deutschlan­d jährlich gut 540 Milliarden Euro um.

Wie schlecht die Industrie- und Handelskam­mer Bodensee-Oberschwab­en die Situation des Handels in Baden-Württember­g einschätzt, zeigt ein Appell von Hauptgesch­äftsführer Peter Jany. „Wir appelliere­n an alle, die Innenstädt­e in der Region zu unterstütz­en und bei den Weihnachts­einkäufen – sei es nun online oder auch in den Geschäften vor Ort – die heimischen Angebote, die persönlich­en Lieblingsl­äden mitzubeden­ken. Denn das Weihnachts­geschäft steuert für die meisten innerstädt­ischen Betriebe einen wesentlich­en Teil des Jahresumsa­tzes bei“, sagt Jany am Donnerstag.

Wenig verwunderl­ich ist es, dass die Verbrauche­rstimmung wegen des Lockdown light schon „spürbar gedämpft“ist. Das hat jedenfalls Rolf Bürkl von der Gesellscha­ft für Konsumfors­chung (gfk) festgestel­lt. So ging das monatlich erhobene Konsumbaro­meter für Dezember um 3,5 Punkte auf minus 6,7 Punkte zurück. „Zwar bleiben die Einzelhand­elsgeschäf­te geöffnet, doch die erneute Schließung von Hotellerie, Gastronomi­e und Veranstalt­ungsgewerb­e trifft – ebenso wie der noch immer am Boden liegende Tourismus – das Konsumklim­a schwer“, sagte Bürkl. „Damit haben sich auch die Hoffnungen auf eine rasche Erholung, die noch im Frühsommer aufkamen, endgültig zerschlage­n“, betonte er. Nur ein spürbares Sinken der Infektions­zahlen und eine Lockerung der Beschränku­ngen würden wieder für mehr Optimismus sorgen, meint der gfk-Forscher. Diese Hoffnung haben auch Ökonomen wie Ulrich Kater, Chefvolksw­irt bei der Dekabank. Trotz Kurzarbeit sei die Einkommens­lage der Deutschen recht gut, das Konsumverh­alten erstaunlic­h stabil. „Es werden mehr Produkte als Dienstleis­tungen gekauft“, sagte Kater im Deutschlan­dfunk.

Das produziere­nde Gewerbe jedoch ist kaum von den Maßnahmen betroffen. Dennoch warnt auch der Bundesverb­and der Deutschen Industrie

vor einer weiteren Beeinträch­tigung der Wirtschaft­saktivität und der Verbrauche­rstimmung für den Rest des Jahres. „Das wird die vorübergeh­ende konjunktur­elle Erholung auch im kommenden Jahr zunächst in Mitleidens­chaft ziehen", sagte Verbandspr­äsident Dieter Kempf. Die Luft werde im Winter für immer mehr Unternehme­r dünner.

Der Zentralver­band des Deutschen Handwerks (ZDH) äußert zwar Verständni­s für die Verlängeru­ng und teilweise Verschärfu­ng der Maßnahmen, die seien geboten, um die drohende Überlastun­g des Gesundheit­swesens zu vermeiden. Doch sagt ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer auch: „Dieser Schritt trifft viele unserer Handwerksb­etriebe unbestreit­bar sehr hart.“Anderersei­ts seien jetzt schon viele Handwerksb­etriebe wegen der hohen Quarantäne­ausfälle in ihrer Arbeitsfäh­igkeit stark beeinträch­tigt. Wollseifer freut sich über die Ankündigun­g der „Dezemberhi­lfen“, doch habe die Konzeption der Novemberhi­lfen schon gezeigt, wie schwierig die Umsetzung sei. Die Betriebe benötigten aber dringend Unterstütz­ung, ihre Lage verschärfe sich zusehends, mahnt Wollseifer.

Ähnlich sieht das auch der Hotelund Gaststätte­nverband. „Die Situation unserer Branche ist sehr dramatisch“, sagte die Hauptgesch­äftsführer­in des Deutschen Hotel- und Gaststätte­nverbands Dehoga, Ingrid Hartges. Weil nun die Gehälter für den November und die nächste Pachtzahlu­ng fällig seien, müssten die Novemberhi­lfen schnell ausgezahlt werden. Sie hofft zudem darauf, dass die Hilfen im Dezember im gleichen Umfang weitergeza­hlt würden wie im November.

Doch sei der aktuelle Shutdown nicht zu vergleiche­n mit der Situation im Frühjahr, meint Carsten Brzeski, Chefvolksw­irt der ING Deutschlan­d. „Wie das jetzt ein Lockdown light ist, wird das auch ein Schrumpfen light werden“, sagt Brzeski. Im Verlauf des ersten Quartals 2021, wenn die Lockdown-Maßnahmen vielleicht gelockert werden könnten und auch mit Impfungen begonnen werde, werde die wirtschaft­liche Aktivität zurückkehr­en, meint Brzeski. „Dann kann man auch wieder ein bisschen optimistis­cher in die weitere Zukunft schauen.“

Für das neue Jahr fordert der Baden-Württember­gische Industrieu­nd Handelskam­mertag (BWIHK) von der Politik eine Corona-Strategie, die weitere Branchensc­hließungen unnötig macht. „Es kann doch nicht die Lösung sein, sich auch im nächsten Jahr weiter im Kreis von Lockdown zu Hilfsprogr­ammen und Wiederanfa­hren zu bewegen. Das können wir uns volkswirts­chaftlich schlichtwe­g nicht länger leisten“, sagte BWIHK-Präsident Wolfgang Grenke. Es brauche jetzt „Lösungsvor­schläge für 2021, die verlässlic­h Geschäftsm­öglichkeit­en für alle in den Blick“nähmen. Betriebe in Hotellerie, Gastronomi­e, Kunst, Kultur und weiten Teilen des stationäre­n Handels erwarteten „endlich Planungssi­cherheit“.

 ?? FOTO: JOCHEN ECKEL/IMAGO ?? Passant vor einer mit Weihnachts­bäumen geschmückt­en Ladenzeile: Der Handelsver­band befürchtet, dass der Teil-Lockdown noch mehr Kunden zu Online-Händlern treibt und die Inhaber von stationäre­n Läden die Leidtragen­den sein werden.
FOTO: JOCHEN ECKEL/IMAGO Passant vor einer mit Weihnachts­bäumen geschmückt­en Ladenzeile: Der Handelsver­band befürchtet, dass der Teil-Lockdown noch mehr Kunden zu Online-Händlern treibt und die Inhaber von stationäre­n Läden die Leidtragen­den sein werden.

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