Haus für Finanzbeamte, Nazis - und Gäste
Das Hotel zum Kameralamt stellt seinen Betrieb ein - Was nun mit dem geschichtsträchtigen Haus passiert
SPAICHINGEN - Der großer Schlüsselbund klirrt, als Horst Müller eines der neun Zimmer im Hotel zum Kameralamt aufsperrt. Der Raum wirkt gemütlich, so, als habe ihn jemand mit viel Liebe eingerichtet. Und jedes Zimmer ist ein bisschen anders, mal dominiert die Farbe blau, mal orange, mal gelb. Doch eines darf in keinem der Gästeräume fehlen: eine Pflanze. „Die ist gut für das Raumklima“, sagt Horst Müller. Knapp 40 Jahre betreibt er zusammen mit seiner Frau Barbara das Hotel in Spaichingen.
Die Zimmerpflanzen sind mit den Jahren gewachsen, immer größer geworden und reichen nun teilweise fast bis zur Decke. Was mit ihnen passiert, so wie mit vielen der Einrichtugnsgegenstände, ist noch ungewiss. Denn zum 31. Dezember 2020 haben die Müllers den Hotelbetrieb eingestellt.
„Es tut schon ein bisschen weh“, sagt Horst Müller, als er durch das Haus führt, die Zimmer zeigt, den Frühstücksraum, der aussieht, als würden gleich Gäste auftauchen. Doch mit 84 Jahren waren ihm und seiner Frau der Betrieb dann doch nicht mehr nur Freude sondern auch Last geworden. Einen Nachfolger, der das Hotel übernimmt, haben sie nicht gefunden. Stattdessen wollen nun die drei Söhne des Ehepaars das Haus modernisieren und Mietwohnungen einbauen.
Damit geht eine weitere Ära des geschichtsträchtigen Hauses, dessen Anfänge im 18. Jahrhundert liegen, zu Ende und vermutlich wird es auch einen Teil seines einzigartigen Charakter einbüßen. Denn schon die Eingangshalle ist ein echtes Original. An den Wänden hängen Geweihe und Tierfelle, eine Bank aus Hirschgeweihen und ein Kronleuchter runden das Ensemble ab. Die Exponate stammen vom Ehepaar Müller selbst. Sie sollen dem Haus einen schlossähnlichen Charakter verleihen und erinnern an die Zeit, als die Müllers im Jagdschloss auf dem Wartenberg (Geisingen) ein Restaurant betrieben. Beide sind in der DDR aufgewachsen und in den 1950er Jahren in den Westen gegangen. Sie heirateten in Köln, von wo sie ihr Weg über Bayern, Friedrichshafen und Geisingen nach Spaichingen führte. Dort betrieben sie zunächst das Gasthaus der Brauerei Schlüssel bis sie 1976 vom Land das Haus in der Balgheimer Straße 1 kauften.
Im Treppenaufgang, die Holzstiege entlang, nimmt das Ehepaar die Geschichte des Hauses in den Blick. Hinter Glas reihen sich Geldscheine einer Währung, die inzwischen längst nicht mehr in Gebrauch ist der Reichsmark. Doch sie weist auf ein wichtiges Kapitel in der Historie des Hauses hin: 95 Jahre lang war hier das Kameralamt, also das Finanzamt, vom Oberamt Spaichingen untergebracht. Es wirkt so, als hätte das Haus den Müllers einiges zu verdanken. Denn als sie es 1976 kaufen, wird ihnen zunächst empfohlen, es doch abzureißen. Doch das Ehepaar lässt sich beraten und als feststeht, dass die Bausubstanz noch gut ist, entscheiden sie sich, alles zu sanieren. Sie sprechen mit dem Denkmalamt und restaurieren und bemalen die Fassade des Hauses dessen Vorschlägen entsprechend. Es gelingt ihnen auch in einigen Zimmer an der Decke die noch vorhandene Stuckverzierung zu erhalten.
„Die Familie Müller hat da sehr vorausschauend und verantwortungsvoll gehandelt“, meint Angelika Feldes, Leiterin des Gewerbemuseums in Spaichingen. Die historische Bedeutung des Hauses bewertet sie als „sehr hoch“. Bis zum Bau des heutigen Gewerbemuseums Mitte des 19. Jahrhunderts sei das Haus sicher eines der schönsten und prächtigsten in Spaichingen gewesen. Als das Ehepaar 1981 das Hotel eröffnet, wird es wenig später unter Denkmalschutz gestellt. Heute zeigt sich Horst Müller auch ein bisschen stolz darauf, dass sie das Haus erhalten haben.
Das Ehepaar hat sich in all den Jahren zu Experten entwickelt, was die Geschichte des ehemaligen Kameralamts betrifft. Bei einer Außenrenovierung 1982 entdecken sie unter dem Putz auf einem Grundstein die Jahreszahl 1799. So alt muss das Haus also mindestens sein und wurde damit in einer Zeit gebaut, als Spaichingen noch zu Vorderösterreich gehörte. Denn Spaichingen war ab dem 14. Jahrhundert österreichisch, ab 1688 Sitz des Obervogts und damit Verwaltungssitz. 1805 wurde es dem Kurfürstentum Württemberg zugesprochen, das ein Jahr später zum Königreich Württemberg aufstieg. Horst Müller vermutet, dass viele Unterlagen, die tiefere Auskünfte über das Haus geben könnten, „in Sicherheit“gebracht wurden, als Napoleon Spaichingen den Württembergern übergab. Die hatten sich das Gebiet „verdient“, indem sie Napoleon mit Söldnertruppen unterstützten.
1799 gehörte das Haus vermutlich dem Fabrikanten Johann Jacob Kohler, der Rohseide verarbeiten ließ und wohlhabend gewesen sein muss. Anfang des 19. Jahrhunderts beschäftigte er laut Spaichinger Stadtchronik 1000 Mitarbeiter, die aber vermutlich meist bei sich zu Hause die Seide spannen. Als dann ein Kaufmann namens Kohler - möglicherweise der Sohn von Johann Jacob Kohler - das Haus 1843 an das Königreich Württemberg verkaufte, zog dort das Kameralamt ein. Eigentlich wurde Spaichingen schon 1807 zum württembergischen Oberamt, doch bis 1843 wurden die Finanzen in Rottweil verwaltet. Der Name Kameralamt ist heute nicht mehr geläufig, aber als die Müllers das Haus kauften, erinnerten sich noch viele Spaichinger an „das Kameralamt“. Deshalb fiel die Wahl des Ehepaars auch auf diesen Hotelnamen. „Er war wunderbar geeignet, um mit den Gästen ins Gespräch zu kommen“, so Müller. Denn viele wollten wissen, was es mit dem Namen auf sich hat. Außerdem ist sich Müller sicher: „Es gibt kein anderes Hotel auf der Welt, das diesen Namen trägt.“
1938 änderten die Nationalsozialisten die Verwaltungsstruktur und lösten den, seit 1934 so bezeichneten, Kreis Spaichingen auf. Das Finanzamt zog nach Tuttlingen. Von 1938 bis 1945 nutzte der Reichsarbeitsdienst das Haus für seine Zwecke und richtete ein Lager für junge Mädchen ein. Auf der Gedenktafel am Haus steht fälschlicherweise, dass der Bund deutscher Mädel dort unterkam.
Zeitweise wohnten im ehemaligen Kameralamt so bis zu 50 junge Frauen, die ein Jahr lang Haushaltsführung oder die Mitarbeit in der Landwirtschaft lernten und gleichzeitig günstige Hilfskräfte waren. Noch in den 1980er Jahren seien Frauen im Hotel vorbeigekommen, die dort ihren Arbeitsdienst absolviert hätten, berichtet Müller. Sie schickten ihm sogar Erinnerungsfotos zu.
Nach dem Krieg zog für ungefähr ein Jahr die militärische Kommandantur der Franzosen ein, danach kamen Polizeidienstwohnungen in das Haus, später durften dort auch Privatpersonen wohnen. Ab 1981 dann füllten 39 Jahre lang Hotelgäste das Haus mit Leben, meist Monteure, Handwerker, Geschäftsreisende, aber auch Wanderer, die den Donauberglandweg begingen.
Die Gäste werden das Hotel vermutlich vermissen, zumindest legen das die Gästebucheinträge nahe. „Der Start zu unserer Wanderung auf dem Donauberglandweg in Ihrem Hause war gleich einer der Höhepunkte! Ihr Haus, Herr Müller und seine Historie haben Sie uns lebendig gemacht (...).“Nun beginnt ein neues Kapitel dieses historisch bedeutsamen Hauses. Aber auf eines werden die Spaichinger wohl nicht verzichten müssen: Den vertrauten Anblick von außen. Denn auch die Fassade steht unter Denkmalschutz.