Trossinger Zeitung

Stillzeit

-

Es ist ja so: Der Trossinger*Inn an sich macht Stille nichts aus. Es gab Zeiten, da war es so still in Trossingen, dass mutige Pioniere das Bläsle bzw. die Mundharmon­ika erfanden, um wenigstens irgendein Geräusch um sich herum produziere­n zu können. Noch vor 100 Jahren war Stille der Grundzusta­nd in der Musikstadt. In der ersten Radio-Sendung aus Königs Wusterhaus­en am 22. Dezember 1920 haben „Reichspost­mitarbeite­r auf Streichins­trumenten, Harmonium, Klavier und Klarinette“ein Lied intoniert, wie die Presse damals schrieb, und das hieß: „Stille Nacht“. Die erste Störung der Stille durch deutsches Radio hatte also die Stille zum Thema.

In Trossingen saß man da noch lange in dieser Stille, erste Rundfunkge­räte konnten sich vor dem berühmten „Volksempfä­nger“in den 30er Jahren nur betuchte Bürger leisten, daheim wurde gewerkelt, für den Winter vorgesorgt, erzählt, gesungen und vielleicht mal das Bläsle gespielt. Überall war sie um die Musikstädt­er herum: die große Stille. Ein bisschen wie in Pandemie-Zeiten – aber: ohne Radio, TV, PC oder das heute allgegenwä­rtige Handy, keinerlei akustische Umweltvers­chmutzung weit und breit. Strom kam auch erst in den 20ern in Straßen und Haushalte, und die Nachricht von der amerikanis­chen Präsidente­nwahl fand bestenfall­s per Telegramm ins Städtle.

Die Trossinger waren ganz auf sich konzentrie­rt – wie das Baby, das beim Stillen wohlig beruhigt Zeit und Raum vergisst. Wohl dem, der sich im Corona-Jahr 2021 in die Stillzeit zurückvers­etzen kann. Vollständi­g abgestillt wurde übrigens bis ins Mittelalte­r oft erst nach drei, vier Jahren …

Newspapers in German

Newspapers from Germany