Birk-Areal bietet Fülle an Motiven
Erste Gesamtschau über das Schaffen des Trossinger Künstlers Martin Wernert erscheint
TROSSINGEN - Seit Mitte der 1990er Jahre lebt und arbeitet der Maler Martin Wernert in Trossingen. Nun ist das großformatige Buch „Verfinsterung“erschienen, das erstmals einen Überblick über das Schaffen des gebürtigen Meßkirchers gibt. Sein Wohnatelier ist in der früheren Kartonagenfabrik Birk. Dort entstehen seine oft großformatigen Bilder, die den Geist des „Magischen Realismus“der 1920er Jahre atmen.
Auf der Staffelei steht Wernerts jüngstes Werk, das den Arbeitstitel „Die Schatteninsel“trägt. Es ist durchaus charakteristisch für viele Hauptwerke des 1965 geborenen Künstlers: Es zeigt eine verschränkt auf einem Hocker sitzende, nachdenklich wirkende nackte junge Frau. In einer Wand hinter ihr öffnet sich eine kleine Tür, die den Blick frei gibt auf Pflanzen und einen Fuchs. „Das Modell hat eine starke Affinität zu Füchsen“, erläutert Wernert die unwirklich anmutende Szenerie, zu der er Motive, die er in der Fabrik ausgemacht hat, zusammengefügt hat. Eine „Seelenlandschaft“habe er darstellen wollen: „Die Umgebung soll das Innere der Person widerspiegeln.“
Drei Monate brauche er für ein großformatiges Werk wie jenes. Die lange Dauer liegt an der Lasurmalerei, einer aufwändigen Technik, die bereits die Maler des Barock verwendeten: „Das Bild entsteht durch das Übereinanderlegen transparenter Farbschichten“, erläutert Wernert. „Das führt dazu, dass ich das Bild mehrmals male – dadurch bekommt es eine Leuchtkraft, die auf eine andere Art nicht zu erreichen wäre.“Formale Strenge, eine durchdachte Bildkomposition und die dramaturgische Lichtregie sind weitere Kennzeichen der Bilder Wernerts. Und die Kombination Figur und Raum – immer sind es junge Frauen, oft im formalen Kontrast zu Maschinen oder Möbelstücken.
Das erinnert in vielem an die Bilder der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre, etwa an die TechnikDarstellungen eines Carl Grossberg. Wernert weist diesen Vergleich nicht von sich – im Gegenteil, er „fühlt sich geehrt“. Sein Lehrer an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe/Freiburg, wo Wernert von 1983 bis 1988 Malerei und Grafik studierte, Prof. Peter Dreher, sei ein Schüler des neusachlichen Malers Karl Hubbuch gewesen. „Und ich setze diese Linie durchaus fort – ich bin mir der Tradition bewusst, der ich mich gerne zuzähle.“Auch Vermeer, Hopper oder Balthus beeinflussten ihn, „sie pflegten alle die Interieur-Malerei, eine Figur im Raum – mich fasziniert die Kombination Individuum und strenge Raumgeometrie.“Bis heute, nach rund 500 Werken seit den 1980er Jahren, gut die Hälfte davon Gemälde, habe sich dieses Thema für ihn nicht erschöpft, „ich verfalle nicht in Routine“.
Nach Trossingen war Wernert gekommen, als er „in der ganzen Gegend nach einem Atelier gesucht“hat. Die vielen alten Industriebauten in der Stadt waren ihm aufgefallen. „Wenn ich hier nichts gefunden hätte, wo dann?“Durch Zufall sei er auf die Kartonagenfabrik gestoßen. Bei Frank Birk sei er auf offene Ohren gestoßen: Ein großer Raum in einem der oberen Stockwerke stand leer und wurde zum Atelier mitsamt Wohnung umfunktioniert. Wernert will dort bleiben, seine Bleibe kaufen, wenn das Birk-Areal wie geplant saniert wird.
Das und die nahe Umgebung tauchen in seinen Arbeiten immer wieder auf: mit technischen Gerätschaften auf seinen Figurenbildern oder beim für Wernerts Werke typischen Blick durch ein Fenster, etwa auf die nahe Gaststätte „Germania“. „Es sind Stadtlandschaften, die eng ans BirkAreal gebunden sind.“Und auch seine Modelle findet der Künstler in Trossingen: „Häufig sind es Studentinnen der Musikhochschule“, erläutert er, die er direkt anspreche – so auch die junge Frau der „Schatteninsel“. Damit, dass er viele von ihnen nackt abbilde, hätten die wenigsten Probleme gehabt. „Ich habe erstaunlich selten Absagen bekommen.“
Bis Wernert von seiner Kunst leben konnte, hat es gedauert. „Viele Jahre habe ich die Hälfte der Zeit etwas anderes gemacht, um zu überleben“, blickt er zurück. Etwa Zeichnungen für einen Architekten, „auch auf dem Bau habe ich viel gearbeitet“. Ein halbes Jahr war er auch mal Kunstlehrer am Gymnasium Gosheim-Wehingen. Zwischenzeitlich, von 2003 bis 2010, hatte er parallel ein zweites Atelier in Berlin, „meine Freundin hat dort studiert“. Doch er habe gemerkt, dass er sich „auf dem Land besser fühle und arbeiten“könne. Zudem habe er in Berlin „nichts verkaufen können – dort ist ja jeder zweite ein Künstler“.
Doch seine Situation habe sich im Laufe der Jahre stets verbessert – heute könne er vom Verkauf seiner Bilder leben. Viel laufe dabei über „Mund-zu-Mund-Propaganda“, zudem gebe es einige Sammler, die immer wieder Werke von ihm erstünden. Zu sehen sind Arbeiten von Wernert zudem in der städtischen Galerie in Schwenningen, im Balinger Landratsamt und in Trossingen in der Stadtbücherei. Auch die Stadt Tuttlingen habe Bilder von ihm gekauft, in der städtischen Galerie der Kreisstadt stellte der Trossinger ebenso aus.
„Wunderbar verkaufen“ließen sich auch seine Stillleben – ohne, dass er sie in „Serienproduktion“anfertige, betont Martin Wernert. Sie machen den zweiten großen Teil seiner Arbeit aus neben den Darstellungen
junger Frauen in Interieurs; gleich diesen haben die Stillleben einen meditativen Zug, und sie sind ebenfalls an klassischen Vorgängern geschult wie Morandi. „Mein Professor Dreher war ein großer MorandiVerehrer“, sagt Wernert. Wie bei allen seiner Werke stehe bei den Stillleben die Komposition im Mittelpunkt. „Eine Frau hat mich mal gefragt, ob ich eine Schale auf einem meiner Bilder auch mal als alleiniges Motiv malen könne,“schildert er seine Anfänge als Stillleben-Maler. Ihn habe es gereizt, ein Gefäß in den Mittelpunkt eines Bildes zu stellen. „Und es ist entspannend, wenn ich über Monate ein großes Bild gemalt habe.“
Großformatig ist auch die erste Gesamtschau über Wernerts Schaffen
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ausgefallen mit fast 200 Seiten und zahlreichen Abbildungen. Die Auswahl hat er selbst getroffen, und um die Arbeiten zu fotografieren, war er bei Privatsammlern in halb Deutschland unterwegs, in Berlin, Hannover, Köln. „Ich bin immer wieder gefragt worden, ob es etwas Gedrucktes über mich gibt“, sagt Wernert. Irgendwann sei der Punkt da gewesen, das Projekt in Angriff zu nehmen. „Es war vor allem eine finanzielle Frage.“Er habe Spender gesucht und gefunden. Der Philosoph Rudolf Brandner steuerte einen umfangreichen Essay bei. Das Buch „Verfinsterung“hat eine Auflage von 500 Exemplaren. Es ist im Meßkircher Gmeiner-Verlag erschienen und für 48 Euro im Buchhandel oder bei Amazon erhältlich.