„Niemand muss draußen schlafen“
Tuttlinger Wohnungslosenhilfe versorgt Obdachlose – Angst vor Corona-Ausbruch
TUTTLINGEN - So einen strengen Winter gab es schon lange nicht mehr, dazu kommt die Corona-Pandemie. Obdachlose sind in dieser Zeit besonderen Herausforderungen ausgesetzt, denn viele ihrer üblichen Anlaufstationen sind geschlossen. Was tun? Redakteurin Ingeborg Wagner unterhielt sich mit Doris Mehren-Greuter von der AWOWohnsitzlosenhilfe in Tuttlingen darüber. Sie sagt, dass keiner draußen schlafen muss, es aber doch einige Menschen gebe, die nicht in die Unterkünfte wollten.
Wie können Sie die Not der Wohnsitzlosen lindern? Die Wärmestube, ein beliebter Treffpunkt der AWO, ist coronabedingt ja geschlossen.
Ja, die können wir momentan natürlich nicht offen halten. Dennoch kochen wir an Werktagen und bieten Essen zum Mitnehmen an, denn die Wärmestube war ja der Ort, an dem sich die Menschen günstig verpflegen konnten. Gleichzeitig war sie ein Ort der Begegnung, beides Aspekte, die nun schmerzhaft fehlen. Bis zu zehn Essen werden täglich abgeholt. Dabei versuchen wir, den Kontakt zu den Menschen zu halten, und wenn es nur fünf Minuten sind, die wir miteinander sprechen können.
Auch sonst ist vieles geschlossen – Cafés, auch die Bäckereien haben ihre Sitzbereiche abgesperrt. Unsere Beratungsstelle ist jeden Werktag geöffnet, wir haben immer Lebensmittel da, die wir verteilen können. Brot, Kaffee, auch Masken, alles, was der Mensch braucht. Die Menschen können bei uns duschen und ihre Wäsche waschen. Auch sonst helfen wir, zum Beispiel bei Anträgen.
In diesem strengen Winter müsste das Nachtlager in der Katharinenstraße doch voll belegt sein, oder? Das wird kaum angenommen. Seit Mitte November ist es geöffnet, und vereinzelt bringen wir dort auch Menschen unter. Eine Frau aus Slowenien war gerade für eine Woche dort, auch aktuell sucht eine Frau eine Übernachtungsunterkunft. Für solche Fälle brauchen wir es nach wie vor. Ansonsten sind die Menschen in den städtischen Notunterkünften, wie in der Jetterstraße, untergebracht. Und wir haben momentan circa drei, vier Klienten, die trotz der Witterung in keine Unterkunft wollen. Das müssen wir akzeptieren. Mit denen haben wir Kontakt, sie kommen zu uns, holen ihr Geld ab, suchen die Toilette auf und duschen.
Ibrahim Akdemir, ein Mann aus Tuttlingen, bietet über Facebook an, Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben, die Kosten für eine Unterkunft, sprich Hotel, für einen Monat zu bezahlen. Was sagen Sie dazu?
Dazu kann ich wenig sagen. Kontakt zu unserer Beratungsstelle hatte er nicht. Wenn Herr Akdemir das möchte, ist das okay, das ist ja ihm selbst überlassen. Unser Hilfesystem ist so aufgebaut, dass jeder Hilfe und Unterkunft bekommt, wenn er im Hilfssystem drin ist, also Hartz IV oder andere Unterstützung zum Leben bekommt. Niemand muss draußen schlafen. Es gibt natürlich auch Fälle, da muss jemand aus anderen Gründen als finanziellen aus der Wohnung raus oder erlebt gerade eine Durststrecke, ohne diese Hilfesysteme in Anspruch zu nehmen. Das bekommen wir dann nicht mit.
Corona bringt immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft. Bemerken Sie einen deutlichen Zulauf von Hilfesuchenden? Nein, eher das Gegenteil ist der Fall. Ich habe den Eindruck, dass sich dadurch viele eher zurückziehen und wie unter einer Blase leben.
Wie spüren Sie diesen Rückzug?
Wir hatten vor Corona einige junge Leute bei uns in der Anlaufstelle, die keinen festen Wohnsitz hatten. Nun habe ich den Eindruck, dass sie versuchen, es zu Hause auszuhalten. Dazu kommt, dass es coronabedingt momentan wenig bis gar keine Wohnungsräumungen gibt. Diese Hilfesuchenden fallen also auch weg. Uns ist aufgefallen, dass es in Tuttlingen eine neue Art von Mietverhältnissen gibt. Größere Wohnobjekte werden in einzelne Zimmer aufgeteilt und diese dann vermietet, wie eine Art WG. Damit hat man zumindest ein Dach über dem Kopf. Allerdings haben wir auch ein neues Klientel bekommen. Das sind vielfach Menschen aus Osteuropa, die mit MiniJobs versucht haben, ihre Existenz zu sichern. Durch Corona sind diese Jobs weggefallen, und das ist oft mit ganz viel Leid verbunden. Viele haben keinen Anspruch auf Hartz IV, weil sie nicht lange genug gearbeitet haben. Die Aussicht, jetzt einen Job zu finden, ist relativ gering.
Wie helfen Sie denen?
Mit Care-Paketen, mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs.
Die Spendenbereitschaft ist momentan enorm hoch, das freut uns, und wir freuen uns auch über jeden Kaffee, der bei uns abgegeben wird. Die Tafel hat nach wie vor offen, da holen wir einmal die Woche Waren ab und verteilen sie, auch in der Jetterstraße. Zudem werden wir sehr gut vom Landkreis unterstützt. Das ist nicht selbstverständlich. Zu Beginn der zweiten Welle haben wir kostenlos FFP2-Masken vom Landratsamt bekommen und Schnelltests, die wir durchführen können, wenn jemand ins Nachtlager oder ins Aufnahmehaus bei uns in der Karlstraße geht. Da sind wir dem Landratsamt sehr dankbar. In anderen Kreisen lief das längst nicht so glatt wie bei uns.
Wissen Sie von Corona-Fällen unter den Wohnsitzlosen?
Nein, da habe ich nichts mitbekommen. Zum Glück. Ich hoffe, es bleibt so. Unsere große Angst ist, dass wir einen Corona-Ausbruch in einer Notunterkunft bekommen. Dann haben wir ein Problem. Die hygienischen Verhältnisse sind nicht so besonders, zudem sind viele unserer Klienten Risikogruppe. Sie sind erkrankt und haben es im Leben auch sonst nicht einfach. Wir sehen aber auch das Licht am Ende des Tunnels. Obdachlose gehören bei der Vergabe von Impfterminen der Kategorie 2 an. Wir kümmern uns darum, Termine für sie zu bekommen und hoffen, dass es bald losgeht.
Wie schauen Sie auf eine Zeit nach Corona?
Ich befürchte, dass dann einiges auf uns zukommt. Momentan habe ich den Eindruck, verharren die Menschen in dem Zustand, in dem sie sich gerade befinden. Ein Jahr Corona macht sich bemerkbar. Die Wohnsitzlosen sind nicht mobil, haben kein Auto, und noch weniger Zugang zur Teilhabe in vielen Bereichen als sonst. Auch wir in der Beratungsstelle sind nur abwechselnd im Büro, anders geht es nicht, und versuchen dennoch, den persönlichen Kontakt aufrechtzuerhalten. Wir müssen durch diesen Winter kommen, durch diese Krise, und dann weiter schauen. Es gibt aber auch viel Positives und eine große Hilfsbereitschaft. So hat der Wirt der Stadtschenke, der ja derzeit nicht öffnen kann, für uns gekocht und uns das Essen an die Wärmestube gebracht. Zudem sind wir an Weihnachten von zahlreichen Zulieferern und Handelspartnern der Firma Karl Storz mit Spenden bedacht worden. Das hat uns mehr als gefreut.