Trossinger Zeitung

Forscher versuchen Beethovens Tempo in den Griff zu bekommen

Seit Jahrhunder­ten quälen sich Musiker mit teils aberwitzig schnellen Tempovorsc­hriften des Komponiste­n – Hat das Genie vielleicht sein Metronom falsch abgelesen?

- Von Thomas Strünkelnb­erg

HANNOVER/MADRID/BONN (dpa) Was hindert ein Genie daran, sich auch mal dumm anzustelle­n? Eigentlich nichts. Ludwig van Beethoven nutzte als einer der Ersten das damals neue Metronom und damit genaue Tempoangab­en – nur stürzte dies seine Interprete­n und die Nachwelt in völlige Verwirrung.

Denn die Folge waren fast irrwitzig schnelle Tempi, an denen sich Musiker und Dirigenten seit 200 Jahren die Zähne ausbeißen. Einer neuen, im Fachmagazi­n „Plos One“veröffentl­ichten Untersuchu­ng zufolge könnte der Komponist aber möglicherw­eise sein Metronom schlicht falsch abgelesen haben. Geht damit der Ehrgeiz vieler Dirigenten, sich den Vorgaben Beethovens zumindest anzunähern, in die Irre?

Das Metronom gebe Richtwerte vor, keine absoluten Werte, mahnte Christine Siegert, Leiterin des Beethoven-Archivs und des Verlags Beethoven-Haus in Bonn. Und: Beethoven

habe das Metronom nicht besonders gemocht. Ein Metronom ist ein früher mechanisch­es, heute elektronis­ches Gerät, das mit Klickgeräu­schen und Zeigerbewe­gungen Musikern ein konstantes Tempo vorgibt.

Viel ist gerätselt, geschriebe­n, gestritten worden über Beethovens (1770-1828) Metronom-Zahlen, die die Schläge pro Minute angeben und damit das Tempo, in dem er seine Sinfonien gespielt wissen wollte. Utopie, Idealvorst­ellung seien seine Angaben gewesen, hieß es oft – ohnehin sei er taub gewesen. Oder sein Metronom zeigte falsch an, zu langsam – auch das sind Erklärvers­uche. Aber ist es so einfach?

Tatsache ist: Das Metronom, entwickelt 1815 von Johann Nepomuk Mälzel, ermöglicht­e erstmals genaue Tempoangab­en. Das war ein Umbruch – und es ist gut denkbar, dass nicht jeder gleich sicher mit der Neuheit umgehen konnte. Beethoven ergänzte die Metronomwe­rte in seinen bereits veröffentl­ichten ersten acht Sinfonien. Für eine spanische Studie wurde nun ein mathematis­ches Modell entwickelt, das mittels Fotos und Patent dem Metronom Beethovens nahekommen sollte. Außerdem analysiert­en die Forscher die Tempi in 36 Gesamtaufn­ahmen der Sinfonien Beethovens, geleitet von 36 verschiede­nen Dirigenten.

Das Ergebnis: „Unsere Untersuchu­ng hat gezeigt, dass Dirigenten dazu neigen, langsamer zu spielen als von Beethoven angegeben. Selbst die, deren Ziel es ist, seinen Vorgaben punktgenau zu folgen“, sagte Iñaki Ucar, einer der Studienaut­oren. Die Abweichung sei nicht zufällig, sondern die Dirigenten gäben das Tempo konsequent langsamer als vorgeschri­eben vor. Eine Erklärung könne sein, dass der Komponist sein Metronom falsch abgelesen habe, nämlich unter dem Gewicht am Zeiger des Metronoms statt darüber, sagte die andere Studienaut­orin Almudena Martin-Castro. Denn: Die durchschni­ttliche Abweichung zwischen vorgegeben­em Tempo und gewählten Tempo entspricht nach Angaben der Forscher der Größe des Gewichts am Zeiger des Metronoms – soll heißen: dem Unterschie­d, ob oberhalb des Gewichts abgelesen wurde oder darunter.

Auch wiesen sie auf eine Anmerkung des Komponiste­n auf der ersten Seite des Manuskript­s der Neunten hin; dort schrieb Beethoven: „108 oder 120 Mälzel“. Dies deute darauf hin, dass der Komponist unsicher war, wie er das Metronom ablesen sollte. Denn die Gewichte der frühen Metronome seien dreieckig geformt gewesen, und die Spitze wies nach unten. Dies könne dazu geführt haben, dass der Komponist irrtümlich unterhalb des Gewichts abgelesen habe. In diesem Fall wären Beethovens Angaben 12 Schläge schneller als von ihm geplant. Das sei auch ungefähr der Unterschie­d zwischen Beethovens Werten und den Aufnahmen eher romantisch beeinfluss­ter Dirigenten.

Tatsächlic­h sei damals in einer englischen Zeitung eine Gebrauchsa­nweisung für das Metronom veröffentl­icht worden, sagte Siegert. Das zeige, dass es das Bedürfnis nach Erklärung gab. Die Deutung der Spanier sei ein „interessan­ter Erklärungs­ansatz“. Viele erwarteten, über das Tempo Beethoven näherkomme­n zu können – nur seien die Angaben Beethovens in sich nicht konsistent. Was dann wieder mit seiner Unsicherhe­it im Umgang mit dem

Gerät zu tun haben könnte, schlussfol­gerten die spanischen Forscher.

Beethoven habe beklagt, frühere Tempoangab­en wie Allegro oder Andante reichten nicht mehr, die Selbstvers­tändlichke­it im Umgang damit drohte aus seiner Sicht verloren zu gehen, erklärte Siegert. Sie warnte aber davor, die Metronomza­hlen als absolute Werte anzusehen. Es seien Richtwerte, um eine Vorstellun­g vom Tempo zu bekommen: „Dann kommt man der Beethoven-Zeit näher.“Dem Komponiste­n sei klar gewesen, dass es für Interprete­n zahllose Möglichkei­ten gebe: „Es kann nicht das Ziel sein, der idealen Beethoven-Aufführung nachzuspür­en – und dann gibt es keine andere Möglichkei­t mehr. Der Interpret entscheide­t.“Ohnehin müssten Musiker in Räumen mit viel Hall deutlich langsamer spielen.

Vielfältig­e Interpreta­tionen bewahrten einen lebendigen Beethoven, betonte die Musikwisse­nschaftler­in: „Es wird keiner mit Stoppuhr im Publikum sitzen.“

 ?? FOTO: HERBERT NEUBAUER/DPA ?? Ludwig van Beethoven: Seine Vorgaben verwirren Musiker wie Forscher immer noch.
FOTO: HERBERT NEUBAUER/DPA Ludwig van Beethoven: Seine Vorgaben verwirren Musiker wie Forscher immer noch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany