Fingerzeige Gottes
Wie Chronisten des Mittelalters Naturkatastrophen beschreiben – Ein Handbuch von Thomas Wozniak
berschwemmungen, Hungersnöte, Vulkanausbrüche, Himmelszeichen oder Krankheiten – noch heute gibt es Menschen, die darin Strafen Gottes für die Missachtung seiner Gebote sehen wollen. Sie stehen damit in einer langen Tradition. Der Historiker Thomas Wozniak, der an den Universitäten Tübingen und München lehrt, hat untersucht, wie in mittelalterlichen Quellen extreme Naturereignisse dargestellt werden. Wie verlässlich sind die Angaben? Wie vertrauenswürdig sind die Schilderungen der Autoren in Annalen und Chroniken vom 6. bis zum 11. Jahrhundert? Sagen sie womöglich mehr über das Weltbild der Chronisten als über die Ereignisse aus?
Wozniaks Arbeit – 800 Seiten Text, 150 Seiten Anhang – ist ein Mammutwerk und Zeugnis eines immensen Arbeitsaufwands. Die Arbeit sei „an zwölf Schreibtischen entstanden“, schreibt er in der Einleitung. Auch ein Hinweis darauf, was unser Wissenschaftsbetrieb heutzutage von jungen Forschern verlangt. Der Historiker hat 160 Annalen und Chroniken vom Jahr 500 bis 1100 n. Chr. untersucht und die Quellen danach befragt, ob und wie sie über besondere Naturereignisse berichten.
Das Buch, es ist seine Habilitationsschrift, gibt zunächst einen Überblick über die aktuelle Forschung. Wozniak grenzt sich sowohl gegen einen rein naturwissenschaftlichen Ansatz wie einen rein anthropologisch-soziologischen ab. Er strebt eine Zusammenschau an, verbindet beide Methoden. Das heißt: Er vergleicht die Angaben in den mittelalterlichen Quellen mit den Erkenntnissen aus Klimaforschung, Dendrochronologie oder Archäologie. Und er sucht in den Quellen nach Parallelstellen und erkennt immer wieder: Mittelalterliche Annalen und Chroniken sind keine „Ereigniskataloge“. Sie sind als zielgerichtete Erzählungen zu lesen, deren Instrumentalisierungen freizulegen sind.
Für die Menschen der Antike und des Mittelalters waren besondere Erscheinungen Zeichen für etwas – ein Komet konnte von der Geburt oder dem nahen Tod des Herrschers künden, eine Sonnenfinsternis womöglich auf ein Unheil hindeuten. Schlug der Blitz ein oder bebte die Erde waren dies Fingerzeige Gottes für menschliches Versagen oder Fehlverhalten, anfangs nur der Herrschaft, bald aber der gesamten Gemeinschaft. Es kann aber auch interessant sein, wenn Annalen über bestimmte Ereignisse gar nicht berichten. Wie die Annales regni Francorum, die nach Wozniak alles, was nach Katastrophe aussah, einfach wegließen um Karl den Großen „nicht in schlechtem Licht erscheinen zu lassen“.
Wozniak geht schematisch vor. Er katalogisiert die extremen Naturereignisse – Kometensichtungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Unwetter, Kälte- und Hitzeperioden, Heuschreckenplagen. Und er beschreibt dann die möglichen Folgen von der Nahrungsmittelknappheit bis zum Hunger, Epidemien bei Tier und Mensch, Wanderungsbewegungen. So berichteten die Annales Weingartenses über die Zeit von 708 bis 936 – verfasst wurden sie wohl ab 918 – „über zwei tektonische Extremereignisse, an Auswirkungen werden nur eine Hungersnot sowie das Sterben bei Mensch und Vieh im Jahr 868 genannt“. Und bei Berthold von Reichenau weist Wozniak eine Kometensichtung (1066) und ein Erdbeben 1062 nach.
Naturereignisse werden religiös ausgedeutet, als Gotteskommentare. Und sie werden instrumentalisiert. Die Berichte über angeblichen Kannibalismus sind ein Beispiel dafür. Zu finden auch bei einem anderen berühmten Reichenauer Mönch, bei Hermann dem Lahmen (1013-1054). Er berichtetet in seinem Chronicon, dass Frauen in Ligurien vor lauter Hunger ihre eigenen Kinder gegessen hätten. Nur: Das soll im Jahre 536 geschehen sein. Hermann aber schrieb 500 Jahre später. Natürlich könnte es sein, dass er den Liber Pontificalis kannte, entstanden ab 530. Dort wird auch aus den Jahren 537 bis 555 und 549 bis 550 von Fällen berichtet, in denen Eltern ihre Kinder gegessen hätten.
Doch ist den Berichten zu trauen? Eher nicht, meint die Forschung. Ein kulturell motivierter Kannibalismus sei für diese Zeit ebenso auszuschließen wie ein aus der Hungersnot entstandener.
„Die mittelalterlichen Autoren benutzten die Beschreibung menschenfresserischen Verhaltens einerseits, um zu verdeutlichen, wie verheerend eine Hungersnot war, andererseits zur christlich-belehrenden Abschreckung.“
Thomas Wozniak „Die mittelalterlichen Autoren benutzten die Beschreibung menschenfresserischen Verhaltens einerseits, um zu verdeutlichen, wie verheerend eine Hungersnot war, andererseits zur christlich-belehrenden Abschreckung.“Wie viele andere Aussagen lässt sich auch diese auf eine Bibelstelle zurückführen, hier die Klagelieder Jeremias. Die Unterstellung der Anthropophagie erscheint so als die größtmögliche Verunglimpfung einer gegnerischen Partei.
Glaubwürdig hingegen erscheint dem Historiker eine Schilderung aus irischen Annalen: Dort heißt es für das Jahr 963, dass der Hunger so unerträglich geworden sei, dass Väter ihre Kinder verkauft hätten, um Lebensmittel zu bekommen.
Bei einem so umfassenden Kompendium bleiben Redundanzen nicht aus. Aber die einzelnen Phänomene werden auch von verschiedenen Seiten beleuchtet. Wozniak ist es wichtig zu betonen, welchen Einfluss die Religion auf die Intention der Verfasser hatte: „Die Naturextreme wurden deshalb zu Strafmaßnahmen eines von den Sünden der Zeitgenossen enttäuschten Gottes umgedeutet, was durch die Entwicklung der Theologie eines ,rächenden Gottes’ vorangetrieben wurde. Als Ursachen für den Zorn Gottes wurden ungläubige Fremde wie Sarazenen, Araber Juden, aber auch exkommunizierte oder sündige Christen identifiziert.“
Ist also alles nur Propaganda? Auch die Berichte über Naturereignisse? Wie immer ist die Antwort kein eindeutiges Ja oder Nein. So stimmen zum Beispiel immerhin ein Drittel der geschilderten Sonnenund Mondfinsternisse mit heute nachweisbaren Daten überein. Aber das sagt natürlich noch nichts darüber aus, was die Chronisten aus diesen Schilderungen gemacht haben, was sie damit wollten. Ein weites Feld für die Forschung, wie Wozniak im Schlusswort schreibt.