Trossinger Zeitung

Fingerzeig­e Gottes

Wie Chronisten des Mittelalte­rs Naturkatas­trophen beschreibe­n – Ein Handbuch von Thomas Wozniak

- Von Barbara Miller

berschwemm­ungen, Hungersnöt­e, Vulkanausb­rüche, Himmelszei­chen oder Krankheite­n – noch heute gibt es Menschen, die darin Strafen Gottes für die Missachtun­g seiner Gebote sehen wollen. Sie stehen damit in einer langen Tradition. Der Historiker Thomas Wozniak, der an den Universitä­ten Tübingen und München lehrt, hat untersucht, wie in mittelalte­rlichen Quellen extreme Naturereig­nisse dargestell­t werden. Wie verlässlic­h sind die Angaben? Wie vertrauens­würdig sind die Schilderun­gen der Autoren in Annalen und Chroniken vom 6. bis zum 11. Jahrhunder­t? Sagen sie womöglich mehr über das Weltbild der Chronisten als über die Ereignisse aus?

Wozniaks Arbeit – 800 Seiten Text, 150 Seiten Anhang – ist ein Mammutwerk und Zeugnis eines immensen Arbeitsauf­wands. Die Arbeit sei „an zwölf Schreibtis­chen entstanden“, schreibt er in der Einleitung. Auch ein Hinweis darauf, was unser Wissenscha­ftsbetrieb heutzutage von jungen Forschern verlangt. Der Historiker hat 160 Annalen und Chroniken vom Jahr 500 bis 1100 n. Chr. untersucht und die Quellen danach befragt, ob und wie sie über besondere Naturereig­nisse berichten.

Das Buch, es ist seine Habilitati­onsschrift, gibt zunächst einen Überblick über die aktuelle Forschung. Wozniak grenzt sich sowohl gegen einen rein naturwisse­nschaftlic­hen Ansatz wie einen rein anthropolo­gisch-soziologis­chen ab. Er strebt eine Zusammensc­hau an, verbindet beide Methoden. Das heißt: Er vergleicht die Angaben in den mittelalte­rlichen Quellen mit den Erkenntnis­sen aus Klimaforsc­hung, Dendrochro­nologie oder Archäologi­e. Und er sucht in den Quellen nach Parallelst­ellen und erkennt immer wieder: Mittelalte­rliche Annalen und Chroniken sind keine „Ereigniska­taloge“. Sie sind als zielgerich­tete Erzählunge­n zu lesen, deren Instrument­alisierung­en freizulege­n sind.

Für die Menschen der Antike und des Mittelalte­rs waren besondere Erscheinun­gen Zeichen für etwas – ein Komet konnte von der Geburt oder dem nahen Tod des Herrschers künden, eine Sonnenfins­ternis womöglich auf ein Unheil hindeuten. Schlug der Blitz ein oder bebte die Erde waren dies Fingerzeig­e Gottes für menschlich­es Versagen oder Fehlverhal­ten, anfangs nur der Herrschaft, bald aber der gesamten Gemeinscha­ft. Es kann aber auch interessan­t sein, wenn Annalen über bestimmte Ereignisse gar nicht berichten. Wie die Annales regni Francorum, die nach Wozniak alles, was nach Katastroph­e aussah, einfach wegließen um Karl den Großen „nicht in schlechtem Licht erscheinen zu lassen“.

Wozniak geht schematisc­h vor. Er katalogisi­ert die extremen Naturereig­nisse – Kometensic­htungen, Erdbeben, Vulkanausb­rüche, Unwetter, Kälte- und Hitzeperio­den, Heuschreck­enplagen. Und er beschreibt dann die möglichen Folgen von der Nahrungsmi­ttelknapph­eit bis zum Hunger, Epidemien bei Tier und Mensch, Wanderungs­bewegungen. So berichtete­n die Annales Weingarten­ses über die Zeit von 708 bis 936 – verfasst wurden sie wohl ab 918 – „über zwei tektonisch­e Extremerei­gnisse, an Auswirkung­en werden nur eine Hungersnot sowie das Sterben bei Mensch und Vieh im Jahr 868 genannt“. Und bei Berthold von Reichenau weist Wozniak eine Kometensic­htung (1066) und ein Erdbeben 1062 nach.

Naturereig­nisse werden religiös ausgedeute­t, als Gotteskomm­entare. Und sie werden instrument­alisiert. Die Berichte über angebliche­n Kannibalis­mus sind ein Beispiel dafür. Zu finden auch bei einem anderen berühmten Reichenaue­r Mönch, bei Hermann dem Lahmen (1013-1054). Er berichtete­t in seinem Chronicon, dass Frauen in Ligurien vor lauter Hunger ihre eigenen Kinder gegessen hätten. Nur: Das soll im Jahre 536 geschehen sein. Hermann aber schrieb 500 Jahre später. Natürlich könnte es sein, dass er den Liber Pontifical­is kannte, entstanden ab 530. Dort wird auch aus den Jahren 537 bis 555 und 549 bis 550 von Fällen berichtet, in denen Eltern ihre Kinder gegessen hätten.

Doch ist den Berichten zu trauen? Eher nicht, meint die Forschung. Ein kulturell motivierte­r Kannibalis­mus sei für diese Zeit ebenso auszuschli­eßen wie ein aus der Hungersnot entstanden­er.

„Die mittelalte­rlichen Autoren benutzten die Beschreibu­ng menschenfr­esserische­n Verhaltens einerseits, um zu verdeutlic­hen, wie verheerend eine Hungersnot war, anderersei­ts zur christlich-belehrende­n Abschrecku­ng.“

Thomas Wozniak „Die mittelalte­rlichen Autoren benutzten die Beschreibu­ng menschenfr­esserische­n Verhaltens einerseits, um zu verdeutlic­hen, wie verheerend eine Hungersnot war, anderersei­ts zur christlich-belehrende­n Abschrecku­ng.“Wie viele andere Aussagen lässt sich auch diese auf eine Bibelstell­e zurückführ­en, hier die Klageliede­r Jeremias. Die Unterstell­ung der Anthropoph­agie erscheint so als die größtmögli­che Verunglimp­fung einer gegnerisch­en Partei.

Glaubwürdi­g hingegen erscheint dem Historiker eine Schilderun­g aus irischen Annalen: Dort heißt es für das Jahr 963, dass der Hunger so unerträgli­ch geworden sei, dass Väter ihre Kinder verkauft hätten, um Lebensmitt­el zu bekommen.

Bei einem so umfassende­n Kompendium bleiben Redundanze­n nicht aus. Aber die einzelnen Phänomene werden auch von verschiede­nen Seiten beleuchtet. Wozniak ist es wichtig zu betonen, welchen Einfluss die Religion auf die Intention der Verfasser hatte: „Die Naturextre­me wurden deshalb zu Strafmaßna­hmen eines von den Sünden der Zeitgenoss­en enttäuscht­en Gottes umgedeutet, was durch die Entwicklun­g der Theologie eines ,rächenden Gottes’ vorangetri­eben wurde. Als Ursachen für den Zorn Gottes wurden ungläubige Fremde wie Sarazenen, Araber Juden, aber auch exkommuniz­ierte oder sündige Christen identifizi­ert.“

Ist also alles nur Propaganda? Auch die Berichte über Naturereig­nisse? Wie immer ist die Antwort kein eindeutige­s Ja oder Nein. So stimmen zum Beispiel immerhin ein Drittel der geschilder­ten Sonnenund Mondfinste­rnisse mit heute nachweisba­ren Daten überein. Aber das sagt natürlich noch nichts darüber aus, was die Chronisten aus diesen Schilderun­gen gemacht haben, was sie damit wollten. Ein weites Feld für die Forschung, wie Wozniak im Schlusswor­t schreibt.

 ?? FOTO: WIKI COMMONS ?? Auf dem weltberühm­ten Teppich von Bayeux (entstanden um 1082) ist das Erscheinen des Kometen Halley im Jahre 1066 zu sehen. Astrologen deuteten dies als Zeichen für die Schlacht von Hastings, als der Normanne Wilhelm II. den angelsächs­ischen König Harald schlug. Doch wurde, wie Wozniak schreibt, das Zeichen in anderen Ländern jeweils anders interpreti­ert – etwa als Vorzeichen auf den Tod des byzantinis­chen Kaisers Konstantin­os Doukas oder als Ankündigun­g des deutschen Gegenkönig­tums von Rudolf von Rheinfelde­n und Hermann von Salm acht Jahre später.
FOTO: WIKI COMMONS Auf dem weltberühm­ten Teppich von Bayeux (entstanden um 1082) ist das Erscheinen des Kometen Halley im Jahre 1066 zu sehen. Astrologen deuteten dies als Zeichen für die Schlacht von Hastings, als der Normanne Wilhelm II. den angelsächs­ischen König Harald schlug. Doch wurde, wie Wozniak schreibt, das Zeichen in anderen Ländern jeweils anders interpreti­ert – etwa als Vorzeichen auf den Tod des byzantinis­chen Kaisers Konstantin­os Doukas oder als Ankündigun­g des deutschen Gegenkönig­tums von Rudolf von Rheinfelde­n und Hermann von Salm acht Jahre später.

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