Trossinger Zeitung

Schandflec­k der Welt

Kinderarbe­it hat jahrelang abgenommen – Die Corona-Krise könnte die Entwicklun­g nun aber umkehren

- Von Christiane Oelrich und Anne-Sophie Galli

GENF/NEU-DELHI (dpa) - Vor gut einem Jahr besuchte Shekh Zahid noch die vierte Klasse. Heute stochert der Zehnjährig­e in einer mehr als 50 Meter hohen Mülldeponi­e im Norden der indischen Hauptstadt Delhi. Es stinkt wie nach verrottete­n Eiern. Jeden Tag sucht Shekh hier mit seinem Onkel und vielen anderen Erwachsene­n und Kindern, was man noch verwerten und verkaufen kann. Für rund 150 Rupien, etwa 1,70 Euro pro Tag. Seine Familie habe ihn von ihrem mehr als tausend Kilometer entfernten Zuhause in Westbengal­en nach Delhi geschickt. „Wir sind arm, während des Corona-Lockdowns haben wir viel gelitten“, sagt der kleine Junge, seine Hände sind schwarz vom Dreck. Sein Vater verdiene viel weniger als Rikscha-Fahrer. „Ich muss meine Familie unterstütz­en.“Und diese vermisse er.

Damit Shekh und Millionen andere Kinder bald in eine bessere Zukunft schauen, haben die Vereinten Nationen jetzt das „UN-Jahr der Beseitigun­g der Kinderarbe­it“ausgerufen. In den nachhaltig­en Entwicklun­gszielen (SDG) steht, dass jegliche Form von Kinderarbe­it bis 2025 zu beenden ist.

In diesem Ringen sind nach Überzeugun­g der Internatio­nalen Arbeitsorg­anisation (ILO) angesichts der Folgen der Corona-Krise neue Impulse nötig. „Wenn wir unsere Anstrengun­gen nicht erhöhen, besteht das Risiko, dass wir Rückschrit­te machen statt voranzukom­men“, sagt ILO-Generaldir­ektor Guy Ryder.

Wie auch bei Shekh geht es bei der Kinderarbe­it immer um fatale Armut. Familien wissen sich nicht anders zu helfen, als ihre Kinder zum Dazuverdie­nen zu zwingen, um die

Familie zu ernähren. Alarmiert sind die humanitäre­n Organisati­onen wegen der Corona-Krise: „Das kann uns um Jahre, wenn nicht eine ganze Generation zurückwerf­en“, sagt Benjamin Smith, Experte für Kinderarbe­it bei der ILO. „Schon in den ersten Monaten sank das Einkommen der Menschen, die von der Hand in den Mund leben, im weltweiten Durchschni­tt um 60 Prozent.“In vielen Ländern sei das die Mehrheit der

Jobs. Betroffen waren etwa Leute, die Essen an Straßenstä­nden verkaufen, auf Feldern arbeiten, kleine Verkaufsst­ände betreiben, Wäsche waschen, Häuser putzen, im Restaurant bedienen. Bis zu 150 Millionen Menschen könnten wegen der CoronaKris­e bis Ende des Jahres wieder in extremer Armut landen, schätzt die Weltbank. Sie haben dann weniger als umgerechne­t 1,50 Euro für das Überleben pro Tag.

In mehreren Ländern sind auch seit Monaten coronabedi­ngt die Schulen geschlosse­n. In Indien etwa hatten die Kinder wie Shekh dort kostenlose­s Essen erhalten, was Eltern dazu bewogen hatte, sie dorthin zu schicken. Online-Unterricht gibt es wegen des fehlenden Internetzu­gangs an vielen Orten nicht. Auch deshalb schicken etliche Eltern sie stattdesse­n zum Arbeiten – und die Chancen der Kinder, der Armut zu entfliehen, schwinden weiter.

Die ILO definiert Kinderarbe­it als Tätigkeit, die jungen Menschen schadet oder sie vom Schulbesuc­h abhält. Zwar ist die Zahl der Kinder und Jugendlich­en, die arbeiten statt zur Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu machen, seit dem Jahr 2000 um etwa 100 Millionen gesunken. Trotzdem müssen immer noch 152 Millionen schuften, fast jedes zehnte Kind unter 18 Jahren. 48 Prozent

von ihnen sind noch nicht mal zwölf Jahre alt.

Bei fast der Hälfte der 152 Millionen Minderjähr­igen geht es um Arbeit, die gefährlich oder ausbeuteri­sch ist oder ihre körperlich­e oder seelische Entwicklun­g schädigt. Das kann Arbeit unter Tage sein, schwere Lasten tragen oder mit gefährlich­en Werkzeugen oder Chemikalie­n hantieren. Jedes fünfte arbeitende Kind lebt auf dem afrikanisc­hen Kontinent, in der Asien-PazifikReg­ion sind es 7,4 Prozent.

Das UN-Kinderhilf­swerk

Unicef nennt Beispiele: Ahmad (13) muss im palästinen­sischen Autonomieg­ebiet Gazastreif­en in Hausruinen Trümmerste­ine suchen und diese auf dem Markt an Kiesmacher verkaufen. Er hilft so der elfköpfige­n Familie beim Überleben. Die Syrerin Dyana (13) arbeitet im Libanon auf dem Feld. Sie war noch nie in der Schule. „Ich stelle mir eine Schule wunderschö­n vor, mit gemalten Bildern von Jungen und Mädchen an der Wand“, sagt sie. Dulaly und Chan

„Ich stelle mir eine Schule wunderschö­n vor, mit gemalten Bildern von Jungen und Mädchen an der Wand.“

Mia, beide zehn Jahre alt, tragen Passagiere­n in einem Hafen in Bangladesc­h Koffer. In Kambodscha rupft eine Siebenjähr­ige barfuß Unkraut, stundenlan­g. Ein Zehnjährig­er pflückt in Indonesien Tabak. Yanick (11) hat das für Smartphone­s, Laptops und elektrisch­e Fahrzeuge nötige Kobalt in einem Bergwerk im Kongo abgebaut.

Auch in vermeintli­ch reichen Ländern gibt es Kinderarbe­it, sagt Smith, der Experte für Kinderarbe­it bei der ILO. Minderjähr­ige Prostituie­rte etwa, die von Menschensc­hmugglern ins Land geschleust werden. Und es gibt Pädophile, die sich an Kindesmiss­brauch auf Webseiten ergötzen. „Das Risiko dieser Ausbeutung steigt erschrecke­nd“, sagt Smith. Ermittler meldeten einen großen Anstieg bei einschlägi­gen Webangebot­en. „Das ist ein Riesengesc­häft“, sagt er. Nach Schätzunge­n würden eine Million Kinder weltweit so missbrauch­t. „Aber es gibt eine hohe Dunkelziff­er.“

Die Syrerin Dyana (13) arbeitet im Libanon auf dem Feld

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FOTO: VIJAY PANDEY/DPA Ein junger Lumpensamm­ler sucht auf einer Mülldeponi­e im Norden der indischen Hauptstadt Delhi nach Verwertbar­em.
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FOTO: VIJAY PANDEY/DPA „Ich muss meine Familie unterstütz­en“: Der zehnjährig­e Shekh Zahid zeigt seine vom Müllsammel­n in Delhi schmutzige­n Hände.

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