„Man muss für die Mitarbeiter Klarheit herstellen“
ZF-Chef Wolf-Henning Scheider über das Führen in einer existenziellen Krise, das Sparprogramm und warum gerade viele Kunden bei dem Friedrichshafener Autozulieferer Computer bestellen
FRIEDRICHSHAFEN - Dass ZF-Chef Wolf-Henning Scheider auch bei der Analyse der sehr schlechten Zahlen für das Jahr 2020 ab und an ein Lächeln über das Gesicht huschte, lag an der Tatsache, dass die Zuversicht bei dem 58-Jährigen zurückkehrt. Die Zuversicht, dass der Autozulieferer nicht nur die durch Corona ausgelöste Wirtschaftskrise bewältigt, sondern auch den Wandel hin zur Elektromobilität meistert. Benjamin Wagener, Hendrik Groth und Martin Hennings haben Scheider in der ZFZentrale in Friedrichshafen getroffen und mit ihm über harte Sparmaßnahmen und die Sorge vor der neuen EU-Abgasgesetzgebung, aber auch über neue Produkte und wichtige Aufträge gesprochen.
Wie ist ZF durch das Corona-Jahr 2020 gekommen?
Nach dem extrem schwierigen ersten Halbjahr 2020, das für ZF sicherlich eine der schwersten Zeiten in den vergangenen Jahrzehnten gewesen ist, ist das zweite Halbjahr besser gelaufen und hat unsere Erwartungen übertroffen – vor allem in den ausländischen Märkten. In Europa dagegen waren die Geschäfte so schlecht wie erwartet – mit einem mehr als 20 Prozent geringeren Autoabsatz.
Was bedeutet das in Zahlen?
Im zweiten Halbjahr haben wir einen operativen Gewinn erzielt, mit dem wir zufrieden sein können. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass für das Gesamtjahr beim Nachsteuerergebnis ein deutlicher Verlust steht. Im negativen Ergebnis spiegelt sich auch wider, dass wir uns mit Restrukturierungen auf die kommende Zeit vorbereiten müssen, denn die Märkte erholen sich nicht so schnell.
Was erwarten Sie für das Jahr 2021? Der Weltmarkt für Automobile wird weit unter dem Höchststand von 2017/18 bleiben – ich rechne mit einem um 15 Prozent kleineren Volumen. Das ist ein deutlich niedrigeres Marktniveau, an das wir das Unternehmen anpassen müssen.
Wird der Automarkt jemals wieder das Vorkrisenniveau erreichen? Das wird noch mindestens drei Jahre dauern – also frühestens 2024 der Fall sein. Als Gesamtunternehmen wird ZF allerdings früher wieder auf das alte Umsatzniveau kommen. Das liegt am organischen Wachstum in vielen Feldern, die besser als der Markt laufen, und an der Übernahme von Wabco. Ich gehe davon aus, dass wir innerhalb der nächsten zwei Jahre das Umsatzniveau überschreiten, das wir vor der Krise hatten.
Die Restrukturierung, die Sie im Mai kommuniziert haben, sieht unter anderem einen Stellenabbau vor – weltweit will ZF bis 2025 bis zu 15000, davon in Deutschland bis zu 7500, Arbeitsplätze streichen. Was ist schon passiert?
In Deutschland haben wir, zum Beispiel mit Abfindungen und Angeboten zur Altersteilzeit, knapp 2000 Stellen abgebaut, weltweit einige Tausend mehr. Andererseits schaffen wir in einigen Bereichen auch neue Stellen, sodass unterm Strich die Mitarbeiterzahl wahrscheinlich nicht so stark zurückgeht, wie wir das noch vor einem halben Jahr erwartet haben. Wir haben Umschulungsund Weiterbildungsprogramme erstellt, um Mitarbeitern die Möglichkeit zu bieten, in den neuen Themen Fuß zu fassen.
Nach der Rechnung im April läge die Zahl der bei ZF Beschäftigten 2025 im Extremfall bei 135 000 Mitarbeitern, das wäre ein Minus von 15 Prozent. Wie viele Menschen werden denn nach der neuen Prognose 2025 bei ZF arbeiten?
Eine Prognose für die nächsten drei Jahre ist unglaublich schwierig. Wenn man auf die Bereiche schaut, die vom Rückgang verbrennungsmotorischer Komponenten betroffen sind, stimmt dieser Abbau weiterhin. Aber wir schaffen recht erfolgreich Stellen in neuen Feldern. Außerdem kommen die neuen Kollegen von Wabco hinzu, sodass Ihre Berechnung so nicht eintreten wird.
In dem mit der IG Metall ausgehandelten Tarifvertrag Transformation haben Sie und die Gewerkschaft festgelegt, dass für jeden einzelnen
ZF-Standort bis Ende 2022 Zielbilder für die Zukunft entwickelt werden. Wie weit sind Sie da?
Die Diskussion, welche Produkte wo mit wie vielen Mitarbeitern hergestellt werden können, hat an allen Standorten begonnen. Und wir werden sicher an vielen Standorten gute Ergebnisse erzielen, auch wenn die Zahl der Stellen insgesamt abnimmt. Aber es gibt eben auch Standorte, bei denen wir im Moment noch kein klares Bild für die Zukunft haben. Dafür bleiben jetzt noch knapp zwei Jahre Zeit, aber das heißt nicht, dass wir schon heute sagen können, dass wir überall gute Lösungen finden.
Die Schließung einzelner Standorte ist also nicht vom Tisch?
Nein, die kann ZF nicht vom Tisch nehmen, weil die großen Veränderungen und Restrukturierungen in unserer Branche bereits jetzt stattfinden. Entscheidend ist, dass wir die Sozialpartner und die Beschäftigten mitnehmen, dass wir Wege finden, die am Ende für alle gangbar sind. Aus diesem Grund haben wir im Tarifvertrag Transformation eine Beschäftigungsund Standortsicherung bis Ende 2022 vereinbart.
Wie sehen Sie die Zukunft des Industriestandortes Deutschland? Wird es in Zukunft noch Arbeitsplätze in der Produktion geben?
Es gibt – auch bei ZF – viele Beispiele für Standorte, die mit gut ausgebildeten Mitarbeitern die Möglichkeiten der Automatisierung nutzen und wettbewerbsfähig sind gegenüber jedem globalen Standort. Das funktioniert. Aber nicht bei jedem Erzeugnis. Das geht vor allem bei komplexen Produkten in hohen Stückzahlen.
Wann geht die Rechnung nicht auf? Bei einfachen Erzeugnissen oder kleinen Stückzahlen schaffen wir es nicht mehr, in Deutschland wettbewerbsfähig zu sein. Ein Beispiel: Am Standort Schweinfurt haben wir per Betriebsratsvereinbarung geregelt, dass die Produktion einfacher Stoßdämpfer ins Ausland verlagert und der Verlust mit technisch anspruchsvolleren Produkten teilweise aufgefangen wird. Und insgesamt stehen wir vor der Herausforderung, dass die klassische Getriebetechnik und andere am Verbrennungsmotor hängende Produkte in den nächsten 15 bis 20 Jahren verschwinden werden.
Von wann an werden denn mehr Elektroautos verkauft als Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren mit klassischen Getrieben?
Nach unseren Prognosen wird im Jahr 2030 die Hälfte aller neu gebauten Fahrzeuge elektrisch angetrieben – in den 50 Prozent sind aber auch Hybride enthalten, die ZF-Getriebetechnik nutzen. In Europa wird der Wandel noch schneller gehen, da erwarten wir 2030 den Anteil rein batterieelektrischer Fahrzeuge schon bei 50 Prozent.
Wie viel Prozent vom Umsatz hängt bei ZF noch am Verbrenner? Zwischen 25 und 30 Prozent. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir diesen Umsatzanteil, im Moment sind das rund acht Milliarden Euro, bis 2030 kompensieren und durch neue Produkte ersetzen können. Europa wird bei der Entwicklung neuer Technologien und Mobilitätsdienstleistungen eine Vorreiterrolle spielen, in anderen Märkten wird das langsamer gehen. Aber von 2035 an wird es in Europa und von 2040 an insgesamt in der Welt kaum noch Autos mit Verbrennungsmotoren geben.
Können Sie den Umsatz während der Transformation stabil halten?
Unser Ziel ist, auch während dieses Wandels zu wachsen. Wir haben deshalb Aktivitäten in Technologiefeldern aufgebaut, in denen ZF noch vor sieben, acht Jahren keine Rolle gespielt hat.
Dazu gehört, dass ZF nun Computer baut und Software programmiert. Richtig. Lange Jahre haben wir über den Schwenk in der Elektronikarchitektur gesprochen – nun findet er statt. Die Hersteller zentralisieren die Rechenleistung ihres Fahrzeugs in einem einzigen Computer, denn nur, wenn zum Beispiel ein zentraler Rechner auf Lenkung, Bremse, Antrieb und Fahrwerk zugreift, lässt sich das Fahrzeug ganzheitlich steuern. Dafür braucht man Hochleistungsrechner.
… die Sie mit den ZF-Pro-AI-Produkten im Programm haben.
Ja, wir haben uns darauf lange vorbereitet. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem unsere Kunden gesagt haben: Jetzt brauchen wir die Rechner.
Welche Autobauer haben wie viele Rechner bestellt?
Die Kunden kann ich nicht nennen, aber von den Hochleistungsrechnern haben wir mehrere Millionen verkauft. Das ist jetzt schon ein kommendes Milliardengeschäft. Und im vergangenen Jahr haben wir erstmals Software ohne Hardware verkauft: eine ganzheitliche Fahrwerksteuerung. Von unserem vor anderthalb Jahren neu gegründeten Software-Kompetenzzentrum, das unter anderem hier in Friedrichshafen angesiedelt ist, werden noch viele weitere Software-Ideen realisiert.
Das klingt nicht mehr nach dem traditionellen Getriebehersteller, der ZF lange war.
Was wäre die Folge von noch strengeren Vorgaben?
Je nach Verschärfung kämen die Vorgaben einem Verbot von Verbrennungsmotoren durch die Hintertür gleich. Das ist nicht in Ordnung. Scharfe Grenzwerte befürworten wir, und die haben wir auch schon. Sie jetzt abermals zu verschärfen, würde einen enormen technischen Aufwand verursachen, der möglicherweise gar nicht leistbar wäre – und wenn, dann zu sehr hohen Kosten für Verbraucher und Hersteller. Und das in einer Zeit, in der die Industrie in neue Antriebe und weitere Technologien für die Mobilität der Zukunft investieren muss.
Was würde das für ZF bedeuten?
Wenn der Verbrennungsmotor über eine noch härtere Abgasgesetzgebung de facto verboten oder in eine Nische gedrängt wird, führt das bei uns zu einem wesentlich schnelleren Runterfahren der klassischen Getriebetechnologie. Ich bin für Wandel, aber wenn eine Transformation zu abrupt vorgeschrieben wird, entstehen signifikante Schäden in der Wirtschaft. Ich hoffe sehr, dass eine Euro-7-Regelung mit Augenmaß gefunden wird.
Schon vor der Corona-Krise stand ZF mit der Bewältigung der Transformation vor einer herausfordernden Situation. Als Vorstandsvorsitzender tragen Sie eine große Verantwortung: Sie müssen Entscheidungen treffen, die das Leben von 150 000 Menschen und ihrer Familien beeinflussen. Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um? Es ist sehr wichtig, dass man sich seiner Rolle bewusst ist. Das hat vor allem das vergangene Jahr gelehrt: Man muss für die Mitarbeiter Klarheit herstellen, wohin der Weg geht. Ich musste genau erklären, was die Kostensenkungen bedeuten, wie wir mit dem Homeoffice umgehen, wie wir verhindern, dass sich das Virus ausbreitet. Dabei wurde ich von vielen sehr engagierten Kollegen unterstützt. Und anfangs haben alle gespürt, dass ich extrem besorgt war.
Wie besorgt sind Sie jetzt?
Weniger. Die Sorge ist Stück für Stück der Zuversicht gewichen. Die ZF-Mitarbeiter und Führungskräfte haben unglaublich viel geleistet. Ob vor Ort oder aus dem Homeoffice. Wir haben gespürt, wie das Unternehmen als Ganzes zusammensteht und die Krise meistert.