Polizei führt elfjährigen Jungen in Handschellen ab
Anwalt der Familie erhebt schwere Vorwürfe – Kinder sollen zuvor Gegenstände aus Hochhaus geworfen haben
Nach Wochenenden ist bei der Interpretation der Zahlen zu beachten, dass meist weniger Personen einen Arzt aufgesucht haben. Dadurch wurden weniger Proben genommen. Zum anderen kann es sein, dass nicht alle Gesundheitsämter an allen Tagen Daten an das Robert-Koch-Institut übermittelt haben. In der Tabelle werden die zu Redaktionsschluss neuesten verfügbaren Zahlen angegeben. Dadurch kann es zu Abweichungen zu nationalen und lokalen Zahlen kommen. Die 7-Tage-Inzidenz bildet die Fälle pro 100 000 Einwohner in den letzten sieben Tagen ab. Quellen: Robert-Koch-Institut von Freitag, 8.10 Uhr; Landesgesundheitsamt BadenWürttemberg von Freitag, 16 Uhr; Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit von Freitag, 8 Uhr.
KONSTANZ/SINGEN - Der Fall erinnert eher an Meldungen aus den USA als an einen Polizeieinsatz im Südwesten: Vier Beamte sollen am vergangenen Samstag in Singen ein elfjähriges Kind in Handschellen gezwungen haben, mit auf die Wache zu kommen. Die Familie klagt, dass das Kind von den Handschellen Striemen an den Händen hatte und sie bis heute keine Auskunft erhalten habe, weshalb das Kind mit auf die Wache genommen wurde.
„Solche Geschichten kenne ich aus Alabama, aber nicht aus BadenWürttemberg“, sagt der Anwalt der Familie, Mehmet Daimagüler, der „Schwäbischen Zeitung“. Der promovierte Jurist hat zahlreiche Opfer rassistisch motivierter Gewalttaten vertreten, darunter Opfer der NSUMorde. Auch im aktuellen Fall geht er von einem rassistischen Hintergrund aus, denn das Kind hat zwar einen deutschen Pass, gehört aber zur Gruppe der Sinti und Roma. Ein Beamter soll gesagt haben: „Du bist einer von den Zigeunern. Die kennen wir ja“, so der Anwalt.
Ganz unabhängig davon dürften Kinder mit elf Jahren aber ohnehin nicht in Handschellen gelegt werden. „Hinzu kommt, dass die Eltern nicht informiert wurden, der Junge nicht ans Telefon durfte, als die Mutter anrief, und das Kind in Handschellen auf die Wache gebracht und im Dunkeln allein nach Hause geschickt wurde.“Für den Anwalt ergeben sich daraus gleich eine ganze Reihe möglicher Straftaten: Nötigung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Beleidigung.
Zugetragen hat sich der Fall offenbar gegen 16.30 Uhr in der Singener Südstadt. Romulus und Remus heißen die beiden Hochhäuser, die das Viertel optisch prägen. Bei Schweizer Einkaufstouristen ist die Gegend wegen seiner grenznahen Lage und der Geschäfte beliebt, bei den Singenern genießt es nicht den besten Ruf.
Baden-Württembergs Innenministerium und die Polizei bestätigen, dass es am vergangenen Samstag in Singen „zu einem Vorfall kam, bei dem ein Junge mit angelegten Handschließen zur Polizeidienststelle verbracht werden musste“. Wegen des laufenden Ermittlungsverfahrens können derzeit keine genaueren Angaben zum Sachverhalt gemacht werden. Die Staatsanwaltschaft, bei der die Anzeige der Familie eingegangen ist, hat die Kriminalpolizei Rottweil mit den Ermittlungen beauftragt.
Gleich zwei Streifen sollen die Kinder kontrolliert haben. Nach Recherchen der „Schwäbischen Zeitung“ist die Überprüfung der Kinder allerdings nicht ganz willkürlich erfolgt. Anwohner haben offenbar gesehen, dass die Kinder Gegenstände aus dem 14. Stock eines Hauses geworfen haben. Der Hausmeister soll daraufhin die Polizei gerufen haben.
Was danach geschah, ist noch unklar. Laut Landesverband der Sinti und Roma haben die Kinder nahe der Wohnung der Großmutter des Jungen gespielt, als zwei Polizeibeamte bei ihnen eine Personenkontrolle durchgeführt haben. Das elfjährige Kind, das später in Handschellen auf das Polizeirevier gebracht wurde, gab den Beamten sein Alter an. Die Beamten zogen daraufhin ab. Kurz darauf seien zwei weitere Polizeibeamte gekommen und hätten erneut eine Personenkontrolle vorgenommen. Einer der Beamten sprach das Kind in gebrochenem Romanes an. Hierbei sei das Kind sinngemäß mit den Worten „Einer von den Zigeunern, die kennen wir ja“, „du kommst eine Nacht hinter Gitter“und „der Tod kommt dich holen“bedroht worden. Die Polizeibeamten durchsuchten das elfjährige Kind. Der Junge hatte ein kleines Klappmesser bei sich. „Das ist ganz legal“, sagt der Anwalt der Familie.
Nachdem die Beamten das Kind untersucht hatten, legten sie ihm hinter dem Rücken Handschellen an. Als das Kind seine Mutter anrufen wollte, die sich nicht weit entfernt bei der Großmutter aufhielt, wurde das Kind mit körperlicher Gewalt auf den Rücksitz des Einsatzwagens verbracht, so der Verband. Als es im Auto wiederholte, dass es an Asthma leide und die Fesselung ihm Atemprobleme bereite, soll die Polizeibeamtin gesagt haben: „Halt die Schnauze“. Mehrmals habe die Mutter auf der Wache angerufen, aber keine Auskunft über ihr Kind erhalten. Stattdessen sei der Junge in einem Verhörzimmer festgehalten und anschließend alleine nach Hause geschickt worden, so der Verband.
Anwalt Daimagüler kritisiert dieses Vorgehen scharf. Was immer man den Kindern vorgeworfen hat, die Beamten hätten zur Mutter gehen und die Sache klären können. „Das wäre doch naheliegend.“Schließlich hätten die Kinder ja gesagt, dass die Mutter um die Ecke bei der Oma sei.
Außerdem sehe das Jugendgerichtsgesetz sogar bei über 14-Jährigen vor, dass die Eltern bei einer Befragung durch die Polizei einen Anspruch haben, dabei zu sein. „Die Eltern müssen informiert werden.“Dass die Beamten das Kind älter geschätzt haben könnten, glaubt der Anwalt nicht. „Das Kind sieht aus wie ein Kind. Eher wie neun als wie elf.“
Für Daimagüler ist es bereits der dritte Fall von Polizeigewalt in Baden-Württemberg innerhalb der letzten neun Monate, den er bearbeitet. In Singen sei es sogar schon der zweite Fall. „Das ist schon auffällig“, so der Anwalt. Besonders betroffen mache ihn, dass es sich im aktuellen Fall um ein Kind handelt. „Was macht das mit der Psyche eines Kindes und wie soll es noch mal Vertrauen zur Polizei fassen? Wir vertrauen darauf, dass dieser Vorgang von den Ermittlungsbehörden lückenlos untersucht und kommuniziert wird.“
Auch die Stadt fordert, dass der Vorgang von den Ermittlungsbehörden „lückenlos untersucht und kommuniziert wird“, teilte ein Sprecher auf Nachfrage mit. Singen pflege seit Jahren einen intensiven Austausch mit dem Verband der Sinti und Roma und lässt ihre Verfolgung während des Nationalsozialismus sogar wissenschaftlich aufarbeiten.
Das Innenministerium verspricht, sich für eine lückenlose Aufklärung einzusetzen. „Rassismus und diskriminierendes Verhalten haben in der Landespolizei BadenWürttemberg keinen Platz, daher gehen wir jedem einzelnen Verdachtsfall konsequent nach.“
Der Grüne Europaabgeordnete Romeo Franz, selbst deutscher Sinto, fordert zusammen mit dem Grünen Landtagsabgeordneten Daniel Lede Abal eine bundesweite, unabhängige und umfassende Studie zum institutionalisierten Rassismus in der Polizei. Anwalt Daimagüler, der an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht Grund- und Menschenrechte für angehende Polizeibeamte lehrt, sieht Rassismus gegen Sinti und Roma nicht nur auf die Polizei beschränkt, sondern tief in der Gesellschaft verwurzelt und akzeptiert. „Als Bürger würde ich mich freuen, wenn sich die Vorgänge als großes Missverständnis herausstellen würden“, sagte der Anwalt. Zustände wie in Amerika will er in Deutschland nicht haben.