Statt digitalem Aerobic Chips auf dem Sofa
Weil Sportunterricht wegen der Pandemie über Monate ausfällt, nimmt Bewegungsmangel Trossinger Schüler zu
TROSSINGEN - Die Zahl übergewichtiger Schulkinder hatte bereits vor Corona zugenommen. Die Pandemie hat die Situation noch einmal verschärft, weil der gewohnte Sportunterricht über Monate ausfällt und sich Kinder und Jugendliche so noch weniger bewegen. Exemplarisch für viele Schulen ist die Lage an der Löhrschule.
Stephanie Bargon, Fachschaftsleiterin Sport an der Werkrealschule, ist spürbar konsterniert ob der für Schüler wie Lehrer gleichermaßen unbefriedigenden Situation. Seit den Weihnachtsferien habe aufgrund des Lockdowns kein Sportunterricht mehr stattgefunden. Auch im vergangenen Jahr war dieser bereits über Monate ausgefallen. Und die digitale Alternative ist nicht wirklich das Gelbe vom Ei: Bargon, seit sieben Jahren Lehrerin an der Löhrschule und die Hälfte der Zeit davon Fachschaftsleiterin, hat mit einer Fülle von Problemen zu kämpfen. „Ich weiß nicht, ob die Schüler wirklich etwas machen, wenn ich es einstelle“, sagt sie.
So hatte sie zwei Klassen der Stufen neun und zehn die Aufgabe gestellt, eine Aerobic-Choreografie aufzunehmen. „Ich war schockiert, wie wenig zurückkommt“, ärgert sich Bargon: Von den Zehntklässlern hätten lediglich drei von 19 ein Video gemacht, „bei den Neuntklässlern war die Resonanz noch geringer“. Sie habe den Eindruck, „dass Sport im Stellenwert bei den Schülern ganz hinten steht“. Die vielen, die nichts abgaben, hätten eine „sechs“bekommen. „Sie müssen nun schauen, dass sie diese Note durch andere praktische Leistungen ausgleichen können.“Um es den Schülern etwas einfacher zu machen, habe sie als neue Aufgabe ein Referat zu einem Theorie-Thema aus dem Sport gestellt. „Da gibt es etwas mehr Resonanz.“
Bei vielen Schülern habe sie beim Homeschooling den Eindruck, „dass sie gar nicht reinschauen in das Fach Sport“, sagt die Lehrerin. Im Vergleich zum Präsenzunterricht sei es „deutlich schwieriger, die Kinder zu kriegen“. Häufig müsse sie sich Erklärungen anhören wie, dass „Schüler Dateien daheim nicht hochladen können, weil sie zu groß sind“. Im Herbst sei in allen Fächern der Trossinger Schule Live-Unterricht ausprobiert worden, berichtet Bargon. Doch viele Schüler hätten ihre Kamera
nicht eingeschaltet oder gesagt, dass sie keine hätten, derweil sie etwa Aerobic-Schritte demonstrierte. „Es kann sein, dass sie währenddessen auf dem Sofa sitzen und Chips essen.“Einige hätten auch gemeint, dass sie nicht verpflichtet seien, die Kamera einzuschalten. Und sie habe „keine Handhabe, dass sie einschalten“.
Auch in normalen Zeiten hätten viele Löhrschüler „Ausreden, nicht am Sportunterricht teilnehmen zu müssen – und die Eltern unterschreiben es“, hat Bargon festgestellt. Manche Schüler habe sie in diesem Schuljahr „erst zwei oder drei Mal gesehen“. In der Regel seien es „gerade die, die es am nötigsten hätten“. Sprich die, die bereits in jungen Jahren überflüssige Pfunde mit sich herumschleppen. Auf ein Viertel bis ein Drittel beziffert Stephanie Bargon den Anteil der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen bei den Schülern, die sie unterrichtet. „Genau die sind es, denke ich, die jetzt nichts machen.“Untermauert werden diese Zahlen durch eine Studie der KKH Kaufmännische Krankenkasse: Danach hat die Zahl der Mädchen und Jungen mit extremem Übergewicht zwischen 2008 und 2018 um 30 Prozent zugenommen. Sie habe zwar bisher nicht feststellen können, dass die Zahl dicker Kinder in der Pandemie gewachsen sei, sagt Bargon, „aber verbessert wird die Situation durch die Corona-Pause sicher nicht“.
Allgemein stellt die Sportlehrerin abnehmende Fitness bei den Löhrschülern
fest: So ließen die Leistungen bei den Bundesjugendspielen immer mehr nach. „Manche werfen den Ball nur zwei Meter weit“, nennt Bargon ein Beispiel. Der Umfang des Sportunterrichts hatte bereits in den vergangenen Jahren abgenommen: Die fünften Klassen haben laut Bargon vier Stunden wöchentlich, „alle anderen Klassen zwei“. Früher hätten die Siebtklässler drei Stunden Sportunterricht in der Woche gehabt, „aber wir haben zu wenig Sportlehrer“; vier sind es mit ihr an der Löhrschule, „zwei davon fachfremd“.
Dabei werden in Kindheit und Jugend die Grundlagen für spätere Denkweisen gelegt – auch, was körperliche Betätigung betrifft. „Ein Erwachsener, der mit Sport anfängt, tut sich schwerer, wenn er nicht schon als junger Mensch gelernt hat, Sport zu treiben“, sagt Bargon. Verschärft werde die Situation dadurch, dass derzeit auch der Sport in den Vereinen wegfalle, in denen einige Löhrschüler seien.
Eine ihrer Schülerinnen gehe sonst jeden Tag ins Fitnessstudio, was seit Monaten nicht möglich sei. „Es ist die Frage, was das alles mit solchen Schülern macht – denen fällt doch der ganze Tagesrhythmus weg.“Auch dass Kinder und Jugendliche wegen der geltenden Regeln derzeit keine Möglichkeiten hätten, „mit ein paar Freunden durch Trossingen zu ziehen“, sorge für noch weniger Bewegung.
Viele Kinder und Jugendliche hätten sich allerdings bereits vor Corona kaum oder gar nicht körperlich betätigt, sagt Bargon. Dabei besagten Studien, dass sich Kinder „mindestens eine Stunde am Tag bewegen sollten“. Die Ausbildung koordinativer und motorischer Fähigkeiten wird sonst gehemmt, entwicklungsmäßige und kognitive Defizite können die Folge sein. Was dafür in der Pandemie weiter zunimmt, ist die Zeit, die Kinder und Jugendliche vor Bildschirmen verbringen.
Viel besser wird es auch nicht, wenn es wieder Präsenzunterricht gibt, fürchtet Bargon: Wegen der weiter geltenden Abstandsregeln seien Mannschaftssportarten wie Fußball oder Basketball im Sportunterricht voraussichtlich weiterhin nicht erlaubt – mithin just jene Sportarten, die Schülern oft am meisten Spaß machen. Wenn im nächsten Herbst/Winter wieder Schulen geschlossen würden, fürchtet Stephanie Bargon ein „Fiasko für Lehrer und Schüler“: Lernlücken könnten auch in anderen Fächern nicht gefüllt werden. „Das kann man nicht aufholen – Löhrschüler sind eh schon schwache Schüler.“