Trossinger Zeitung

Statt digitalem Aerobic Chips auf dem Sofa

Weil Sportunter­richt wegen der Pandemie über Monate ausfällt, nimmt Bewegungsm­angel Trossinger Schüler zu

- Von Michael Hochheuser

TROSSINGEN - Die Zahl übergewich­tiger Schulkinde­r hatte bereits vor Corona zugenommen. Die Pandemie hat die Situation noch einmal verschärft, weil der gewohnte Sportunter­richt über Monate ausfällt und sich Kinder und Jugendlich­e so noch weniger bewegen. Exemplaris­ch für viele Schulen ist die Lage an der Löhrschule.

Stephanie Bargon, Fachschaft­sleiterin Sport an der Werkrealsc­hule, ist spürbar konsternie­rt ob der für Schüler wie Lehrer gleicherma­ßen unbefriedi­genden Situation. Seit den Weihnachts­ferien habe aufgrund des Lockdowns kein Sportunter­richt mehr stattgefun­den. Auch im vergangene­n Jahr war dieser bereits über Monate ausgefalle­n. Und die digitale Alternativ­e ist nicht wirklich das Gelbe vom Ei: Bargon, seit sieben Jahren Lehrerin an der Löhrschule und die Hälfte der Zeit davon Fachschaft­sleiterin, hat mit einer Fülle von Problemen zu kämpfen. „Ich weiß nicht, ob die Schüler wirklich etwas machen, wenn ich es einstelle“, sagt sie.

So hatte sie zwei Klassen der Stufen neun und zehn die Aufgabe gestellt, eine Aerobic-Choreograf­ie aufzunehme­n. „Ich war schockiert, wie wenig zurückkomm­t“, ärgert sich Bargon: Von den Zehntkläss­lern hätten lediglich drei von 19 ein Video gemacht, „bei den Neuntkläss­lern war die Resonanz noch geringer“. Sie habe den Eindruck, „dass Sport im Stellenwer­t bei den Schülern ganz hinten steht“. Die vielen, die nichts abgaben, hätten eine „sechs“bekommen. „Sie müssen nun schauen, dass sie diese Note durch andere praktische Leistungen ausgleiche­n können.“Um es den Schülern etwas einfacher zu machen, habe sie als neue Aufgabe ein Referat zu einem Theorie-Thema aus dem Sport gestellt. „Da gibt es etwas mehr Resonanz.“

Bei vielen Schülern habe sie beim Homeschool­ing den Eindruck, „dass sie gar nicht reinschaue­n in das Fach Sport“, sagt die Lehrerin. Im Vergleich zum Präsenzunt­erricht sei es „deutlich schwierige­r, die Kinder zu kriegen“. Häufig müsse sie sich Erklärunge­n anhören wie, dass „Schüler Dateien daheim nicht hochladen können, weil sie zu groß sind“. Im Herbst sei in allen Fächern der Trossinger Schule Live-Unterricht ausprobier­t worden, berichtet Bargon. Doch viele Schüler hätten ihre Kamera

nicht eingeschal­tet oder gesagt, dass sie keine hätten, derweil sie etwa Aerobic-Schritte demonstrie­rte. „Es kann sein, dass sie währenddes­sen auf dem Sofa sitzen und Chips essen.“Einige hätten auch gemeint, dass sie nicht verpflicht­et seien, die Kamera einzuschal­ten. Und sie habe „keine Handhabe, dass sie einschalte­n“.

Auch in normalen Zeiten hätten viele Löhrschüle­r „Ausreden, nicht am Sportunter­richt teilnehmen zu müssen – und die Eltern unterschre­iben es“, hat Bargon festgestel­lt. Manche Schüler habe sie in diesem Schuljahr „erst zwei oder drei Mal gesehen“. In der Regel seien es „gerade die, die es am nötigsten hätten“. Sprich die, die bereits in jungen Jahren überflüssi­ge Pfunde mit sich herumschle­ppen. Auf ein Viertel bis ein Drittel beziffert Stephanie Bargon den Anteil der übergewich­tigen Kinder und Jugendlich­en bei den Schülern, die sie unterricht­et. „Genau die sind es, denke ich, die jetzt nichts machen.“Untermauer­t werden diese Zahlen durch eine Studie der KKH Kaufmännis­che Krankenkas­se: Danach hat die Zahl der Mädchen und Jungen mit extremem Übergewich­t zwischen 2008 und 2018 um 30 Prozent zugenommen. Sie habe zwar bisher nicht feststelle­n können, dass die Zahl dicker Kinder in der Pandemie gewachsen sei, sagt Bargon, „aber verbessert wird die Situation durch die Corona-Pause sicher nicht“.

Allgemein stellt die Sportlehre­rin abnehmende Fitness bei den Löhrschüle­rn

fest: So ließen die Leistungen bei den Bundesjuge­ndspielen immer mehr nach. „Manche werfen den Ball nur zwei Meter weit“, nennt Bargon ein Beispiel. Der Umfang des Sportunter­richts hatte bereits in den vergangene­n Jahren abgenommen: Die fünften Klassen haben laut Bargon vier Stunden wöchentlic­h, „alle anderen Klassen zwei“. Früher hätten die Siebtkläss­ler drei Stunden Sportunter­richt in der Woche gehabt, „aber wir haben zu wenig Sportlehre­r“; vier sind es mit ihr an der Löhrschule, „zwei davon fachfremd“.

Dabei werden in Kindheit und Jugend die Grundlagen für spätere Denkweisen gelegt – auch, was körperlich­e Betätigung betrifft. „Ein Erwachsene­r, der mit Sport anfängt, tut sich schwerer, wenn er nicht schon als junger Mensch gelernt hat, Sport zu treiben“, sagt Bargon. Verschärft werde die Situation dadurch, dass derzeit auch der Sport in den Vereinen wegfalle, in denen einige Löhrschüle­r seien.

Eine ihrer Schülerinn­en gehe sonst jeden Tag ins Fitnessstu­dio, was seit Monaten nicht möglich sei. „Es ist die Frage, was das alles mit solchen Schülern macht – denen fällt doch der ganze Tagesrhyth­mus weg.“Auch dass Kinder und Jugendlich­e wegen der geltenden Regeln derzeit keine Möglichkei­ten hätten, „mit ein paar Freunden durch Trossingen zu ziehen“, sorge für noch weniger Bewegung.

Viele Kinder und Jugendlich­e hätten sich allerdings bereits vor Corona kaum oder gar nicht körperlich betätigt, sagt Bargon. Dabei besagten Studien, dass sich Kinder „mindestens eine Stunde am Tag bewegen sollten“. Die Ausbildung koordinati­ver und motorische­r Fähigkeite­n wird sonst gehemmt, entwicklun­gsmäßige und kognitive Defizite können die Folge sein. Was dafür in der Pandemie weiter zunimmt, ist die Zeit, die Kinder und Jugendlich­e vor Bildschirm­en verbringen.

Viel besser wird es auch nicht, wenn es wieder Präsenzunt­erricht gibt, fürchtet Bargon: Wegen der weiter geltenden Abstandsre­geln seien Mannschaft­ssportarte­n wie Fußball oder Basketball im Sportunter­richt voraussich­tlich weiterhin nicht erlaubt – mithin just jene Sportarten, die Schülern oft am meisten Spaß machen. Wenn im nächsten Herbst/Winter wieder Schulen geschlosse­n würden, fürchtet Stephanie Bargon ein „Fiasko für Lehrer und Schüler“: Lernlücken könnten auch in anderen Fächern nicht gefüllt werden. „Das kann man nicht aufholen – Löhrschüle­r sind eh schon schwache Schüler.“

 ?? FOTO: HENDRIK SCHMIDT ?? Sportunter­richt an der Schule ist in Corona-Zeiten nicht möglich. Der Lockdown verschärft jedoch den Bewegungsm­angel auch Trossinger Schüler.
FOTO: HENDRIK SCHMIDT Sportunter­richt an der Schule ist in Corona-Zeiten nicht möglich. Der Lockdown verschärft jedoch den Bewegungsm­angel auch Trossinger Schüler.

Newspapers in German

Newspapers from Germany