Trossinger Zeitung

„Vereine haben ganz wichtigen Anteil an Integratio­n“

Kreisarchi­var Hans-Joachim Schuster zur Rolle von Sport und Vereinen für die deutsche Identität

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SPAICHINGE­N - Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 ist vor 150 Jahren der moderne deutsche Nationalst­aat entstanden. Im Interview mit Kreisarchi­var Hans-Joachim Schuster fragt Frank Czilwa unter anderem, welche Rolle Sport und Vereine für die deutsche Identität spielen.

Hat eigentlich schon im 19. Jahrhunder­t der Sport irgendeine Rolle gespielt beim deutschen Nationalbe­wusstsein? Es gab zwar noch keine deutsche Fußball-Nationalma­nnschaft, aber so etwas wie das deutsche Turnen ...

Also gerade bei der Turnerbewe­gung besteht ja schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts, beim „Turnvater“Jahn ein gewisser Zusammenha­ng mit dem nationalen Gefühl. Wobei, wenn man jetzt auf die Region guckt: Unser Vereinswes­en geht ja eher Ende des 19. Jahrhunder­ts los: Sportverei­ne, Schwerathl­etik-Vereine, Musikverei­ne. Bei diesen Vereinsgrü­ndungen spielt jetzt der nationale oder nationalis­tische Aspekt weniger eine Rolle. Anders ist es bei den Militärver­einen, die nach 1870/71 gegründet wurden, die haben ja immer auch einen direkten Bezug zu diesem Ereignis, das zur Reichsgrün­dung geführt hat.

Gab es hier in der Region auch Kolonialve­reine? Der Kolonialis­mus hat ja eine gewisse Rolle beim Nationalbe­wusstsein gespielt: Es gab ja keine württember­gischen oder Spaichinge­r Kolonien, sondern die „deutschen“Kolonien.

Also da ist mir jetzt nichts bekannt. Diese Kolonialve­reine sind eher im norddeutsc­hen Raum verbreitet gewesen. Aber hier in der Region wüsste ich überhaupt nicht, dass es dergleiche­n gegeben hat. Aber die Außenpolit­ik, vor allem der unter Kaiser Wilhelm II. wachsende Gegensatz zu England, Frankreich und Russland und das damit verbundene Konkurrenz­denken und militärisc­he Wettrüsten; dann auch die deutsche Flotte, die dann aufgebaut wurde, auch um den Anspruch auf Weltgeltun­g zu untermauer­n – dieses ganze Geflecht, das hat schon zu einer Steigerung des Nationalis­mus und zu einem Denken in deutsch-nationalen Kategorien geführt.

Hat dieses deutsche Nationalbe­wusstsein es auch erleichter­t, Zuwanderer aus ferneren Teilen Deutschlan­ds zu integriere­n?

Im Kaiserreic­h hatten wir hier bei uns im Süden gar nicht so viel Zuwanderun­g. Wenn, dann war das von einem Land ins andere. Es galt ja im Prinzip noch nach 1871 ein Wegzug von einem badischen Ort in einen württember­gischen Ort als Auswanderu­ng. Wanderunge­n hatten wir eher in anderen Teilen von Deutschlan­d, etwa im Ruhrgebiet, wohin Bewohner aus den östlichen Teilen Preußens gezogen sind. Aber die waren polnischsp­rachig und haben noch lange eine Subkultur gebildet. Da hat die deutsche Reichszuge­hörigkeit jetzt die Integratio­n nicht gefördert. Da gab’s dann trotzdem noch Hemmschwel­len.

Wenn wir jetzt mal auf die Zeit nach 1945 blicken. Da wurde ja – aus verständli­chen Gründen – das Nationalbe­wusstsein nicht so in den Vordergrun­d gestellt ...

Also, der Nationalst­olz, der war dahin. Man war ja jetzt eine besiegte Nation, die sich vieler Sachen schuldig gemacht hatte. Da ist das nationale Denken angesichts der Notwendigk­eiten im Alltag total zurück gedrängt worden. Man hat sich dann ja lange, mehrere Jahrzehnte zurückgeha­lten, nationale Äußerungen und Symbole zu zeigen. Das hat sich tatsächlic­h erst im neuen Jahrtausen­d, hauptsächl­ich mit der WM 2006, in einen unbefangen­eren Umgang mit solchen nationalen Symbolen gewandelt.

Auch bei der Integratio­n der heimatvert­riebenen Flüchtling­e nach 1945 hat das Gefühl einer gemeinsame­n deutschen Identität ja weniger eine Rolle gespielt ...

Die Leute, die als Flüchtling­e hierhergek­ommen sind, die haben sich schon als Deutsche gefühlt. Von den Leuten von hier sind sie aber, wenn sie aus dem Osten kamen, teilweise als „Polacken“beschimpft worden, obwohl sie deutscher Sprache waren. Da gab’s nicht das Gefühl, das sind auch Deutsche, und wir sind eine Nation. Nein, da gab’s durchaus auch Animosität­en.

Gilt das auch noch für die Russlandde­utschen, die dann vor allem in den 90er-Jahren in die Region kamen?

Ich würde sagen, ja. Das hängt da aber auch mit anderen Dingen zusammen, dass die Spätaussie­dler aus Russland dann auch die deutsche Sprache nicht mehr so beherrscht haben.

Hat es bei den Donauschwa­ben, von denen ja viele nach Spaichinge­n oder Aldingen gezogen sind, den Integratio­nswillen gestärkt, dass sie sich selbst als Deutsche fühlten?

Dass die Donauschwa­ben, die aus Ungarn, Jugoslawie­n oder Rumänien 1945 und danach zu uns gekommen sind, sich als Deutsche gefühlt haben, ist, glaube ich, unbestritt­en. Die haben ja über zwei Jahrhunder­te oder mehr ihr Deutschtum sehr gepflegt, um sich von ihrer Umwelt ein bisschen abzugrenze­n und damit ihre deutsche Identität zu wahren. Ob es ihnen jetzt genutzt hat, dass sie teilweise dorthin zurück gegangen sind, wo ihre Vorfahren zweieinhal­b Jahrhunder­te zuvor weg gewandert sind, das glaube ich jetzt eher nicht. Das war eher ein Zufall.

Deutschlan­d ist ja defakto vor allem seit dem 19. Jahrhunder­t ein Zuwanderun­gsland, aber kein klassische­s Einwanderu­ngsland, das sich als solches definieren würde, wie etwa die USA. Das deutsche Nationalbe­wusstsein war ja eher kulturell und durch die Vorfahren bestimmt. Hat das den Menschen, die zum Beispiel aus Italien oder der Türkei zugewander­t sind, die Integratio­n erschwert?

Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, zu dem Zeitpunkt, wo die „Gastarbeit­er“kamen – 50er-, 60er-, 70er-Jahre –, da ist dieses deutschnat­ionale Denken ja gar nicht so hervorgeke­hrt worden. Ich glaube nicht, dass das jetzt eine Rolle gespielt hat. Es ging eher darum: Die einen waren die Einheimisc­hen, die anderen eher Fremde. Aber das lief nicht entlang von nationalen oder nationalis­tischen Linien. Die kamen natürlich aus einem fremden Land und haben die deutsche Sprache nicht gut beherrscht. Aber man hat sie ja als Arbeitskra­ft gebraucht. Die Gastarbeit­er wurden nicht als Konkurrent­en gesehen. Im Gegenteil, da gab’s eher diese Willkommen­ssymbolik: Der 1000. Gastarbeit­er hat ein Geschenk bekommen und so weiter. Zumal man davon ausgegange­n ist, die sind nur eine gewisse Zeit da und dann gehen sie wieder zurück. Daher auch der Terminus „Gastarbeit­er“.

Haben die Wirtschaft und die Vereine dabei geholfen, diese Menschen zu integriere­n?

Ja. Also die Wirtschaft ohne Zweifel, weil Integratio­n ja über den Arbeitspla­tz geschehen ist. Das hat, glaube ich, eine ganz große Rolle gespielt.

Bei der Integratio­n spielen aber auch – gerade im ländlichen Raum – die Vereine eine Rolle. Zuwanderer, ob das jetzt deutsche heimatvert­riebene Flüchtling­e waren oder Gastarbeit­er, Spätaussie­dler und zuletzt Asylbewerb­er, die haben sich in deutschen Vereinen eingefunde­n, in Sportverei­nen, aber auch in Kulturvere­inen. Den Vereinen kommt auch ein ganz wichtiger Anteil an der Integratio­n zu.

Insgesamt habe ich den Eindruck, dass der nationale Aspekt des „Deutschsei­ns“das Alltagsleb­en und die Mentalität der Menschen hier in der Region viel weniger geprägt hat als vielmehr regionale und konfession­elle Identitäte­n ... Ja, das würde ich jetzt bestätigen. Man hängt ja heute noch ein bisschen im badischen Teil des Landkreise­s den Badener raus und singt an der Fasnet voller Inbrunst das Badenerlie­d, und die Möhringer stellen ihr Baden-Schild am Ortseingan­g auf. Ich denke, da gibt’s Identitäte­n, die viel kleinräumi­ger sind als diese gesamtdeut­sche Identität. Die haben die Reichsgrün­dung von 1871 überdauert bis in die heutige Zeit hinein. Ich denke, ein Münchner fühlt sich heute als Bayer, ein Tuttlinger oder Spaichinge­r als Württember­ger. In Geisingen oder Immendinge­n fühlt man sich immer noch als Badener oder auf dem Heuberg als Heuberger.

Diese Identitäte­n auf regionaler Ebene spielen eine stärkere Rolle als ein nationales Gefühl. Ich denke, das macht unser Land auch interessan­t, dass es so vielschich­tig ist.

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ARCHIVFOTO: GLÜCKLER Den Banater Schwaben – hier bei einem Marktplatz­fest in Spaichinge­n – dürfte ihre deutsche Identität bei der Integratio­n in die neue Heimat Deutschlan­d geholfen haben.

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