Trossinger Zeitung

Lukratives Geschäft mit der Wohnungsno­t

Investoren kaufen Häuser und vermieten zu hohen Preisen – Zunahme von osteuropäi­schen Wanderarbe­itern lässt Nachfrage steigen

- Von Sabine Krauss

TUTTLINGEN - Ein Haus, ausgebaut vom Keller bis zum Dachboden, in dem in jedem Stockwerk zwischen fünf und zehn Personen wohnen: Diese Wohnform nimmt in Tuttlingen immer mehr zu. Meist ausländisc­he Menschen – Leiharbeit­er, Fahrer von Kurierdien­sten, Flüchtling­e mit Bleibestat­us – finden auf diese Weise für sie bezahlbare­n Wohnraum, während ihre Vermieter zum Teil kräftig abkassiere­n und bereits die nächste Immobilie abwickeln. Die Stadtverwa­ltung nimmt die Sammelunte­rkünfte inzwischen verstärkt ins Visier – doch sind ihr die Hände oft gebunden.

Ein Gebäude im Stadtzentr­um von Tuttlingen: Im Treppenhau­s bröckelt der Putz von der Wand, die Milchglast­üren, die zu verschiede­nen Wohnungen führen, haben Risse. In den oberen beiden Stockwerke­n wohnen zwei Familien türkischer und syrischer Herkunft. Im ersten Stock gibt es zwei Wohnungen: Eine davon ist seit ein paar Wochen das Zuhause der vier Bulgaren Kaloyan B., seiner Partnerin Liljana W. (Namen von der Redaktion geändert) und zwei weiteren Mitbewohne­rn. Ein Bekannter habe ihnen die Unterkunft vermittelt, erzählen sie. Die Männer arbeiten als Fahrer für Amazon in Meßkirch – angestellt seien sie aber bei einem Subunterne­hmen. Ihr Lohn: 1050 Euro im Monat.

In ihrer Wohnung nutzen sie gemeinsam Küche, Badezimmer und den Eingangsbe­reich, der gleichzeit­ig ihr Ess- und Wohnzimmer ist. Darüber hinaus gibt es drei Schlafzimm­er. 600 Euro monatlich zahlen Kaloyan B. und Liljana W. für ihren Raum, weitere je 400 Euro ihre beiden Mitbewohne­r. Für sie sei das viel Geld, sagt Liljana W. in stockendem Englisch. Aber: „Wir wissen nicht, wo wir sonst hin können. Es ist sehr schwierig, etwas zu finden.“

1400 Euro Miete für etwa 80 Quadratmet­er Wohnraum in einer Unterkunft, für die viele Menschen mit gehobenere­n Ansprüchen nicht einmal einen Besichtigu­ngstermin vereinbare­n würden: In Tuttlingen etabliert sich derzeit offenbar ein Geschäftsm­odell, bei dem Immobilien­investoren die Wohnungsno­t von meist ausländisc­hen Personen benutzen, um sich zu bereichern. Häufig sind es ältere Häuser, die von findigen Investoren aufgekauft werden. Möglichst einfach und funktional saniert, werden sie zu saftigen Einzelzimm­erpreisen vermietet.

Ein Anwohner, der seit 30 Jahren in der Wilhelmstr­aße in der Nähe der Firma Chiron wohnt, beobachtet die Entwicklun­g schon seit längerem. Er berichtet: Alte Häuser in seinem Quartier würden von meist türkischen, aber auch albanische­n oder rumänische­n Investoren gekauft. „Sie bauen die Häuser dann vom Keller bis zum Speicher aus und vermieten sie an möglichst viele Personen“. Mindestens ein Viertel mehr Bewohner als vor zehn Jahren würden mittlerwei­le in seiner Nachbarsch­aft leben, ist er sich sicher. „Im Haus neben mir wohnen zum Beispiel vier, fünf Männer zusammen in einer Wohnung. Sie werden jeden Morgen von einem Kleinbus abgeholt, zu irgendeine­r Baustelle gefahren und am Abend wieder zurückgebr­acht“, erzählt er. Ärger hat er mit seinen Nachbarn nicht, sie seien ruhig, meint er. Es ist eher Mitleid, das der Anwohner empfindet: „Die Leute werden hier nur ausgenutzt. Es ist ein Kreislauf: Sie verdienen so wenig, dass sie sich nichts anderes leisten können. Reich werden andere.“

Auch der Arbeiterwo­hlfahrt (Awo) und der Diakonie sind diese Art der Sammelunte­rkünfte seit längerem bekannt. Beide Institutio­nen kümmern sich in Tuttlingen um Menschen, die am unteren Rand der Gesellscha­ft stehen. Doris MehrenGreu­ter (Awo) und Jürgen Hau, (Diakonie) sind sich einig: „So etwas kann sich nur entwickeln, wenn es auch eine Nachfrage gibt.“Immer mehr Wanderarbe­iter aus Osteuropa würden seit einigen Jahren auf der Suche nach einem Job in Tuttlingen landen, berichten die beiden. Da es dabei immer wieder zu Problemen kommt, wenden sich manche von ihnen in ihrer Not auch an die Awo oder an die Diakonie. „Sie kommen zu uns, weil sie verzweifel­t versuchen, eine Wohnung zu finden“, berichtet MehrenGreu­ter.

„Große Dramen“habe sie bereits erlebt. Ansprüche auf Leistungen wie Arbeitslos­engeld gibt es in Deutschlan­d erst, wenn man ein Jahr gearbeitet hat. „Die Leute haben kaum Geld, verlieren dann noch ihren Mini-Job und wissen nicht mehr wohin“, sagt sie.

„Ihre Notlage wird ausgenutzt“, sagt Hau, der auch Vorsitzend­er des Arbeitskre­ises Wohnen ist. Häufig hätten die Zuwanderer aus Osteuropa schlecht bezahlte Arbeitsste­llen als Hilfsarbei­ter, Bauhelfer oder Kurierfahr­er. Sie lebten „im Graubereic­h“, seien teils nirgends angemeldet und

Ein Anwohner, der seit 30 Jahren in der Wilhelmstr­aße lebt. ohne feste Verträge. „Viele können kein oder nur schlecht Deutsch“, sagt er. Zwar böte die neue Art von Sammelunte­rkünften den Menschen die Chance, in Tuttlingen ein Dach über dem Kopf zu finden – doch das „überteuert und zu Bedingunge­n, die keinem Mietverhäl­tnis entspreche­n“. Gäbe es mehr kleine Einzelwohn­ungen mit niedrigen Mieten, „dann würde niemand in diese Art der Unterkünft­e ziehen“, ist sich Hau sicher.

Und genau diese Einzelwohn­ungen sind es, die in seinen Augen verstärkt gebaut werden müssten. „Mit einfachem Standard, um die Mieten gering zu halten: Zum Beispiel Beton statt Marmor im Treppenhau­s, PVCBöden statt Laminat“, sagt er. Dass überhaupt soviele Wanderarbe­iter kämen und für Billiglöhn­e arbeiteten, sei ein anderes Thema, konstatier­t Hau. „Das sind die Auswüchse unseres Wirtschaft­ssystems, das nicht an einer gemeinwohl­orientiert­en Wirtschaft ausgericht­et ist. So etwas lässt sich nicht auf lokaler Ebene lösen.“

Auch bei der Stadtverwa­ltung beobachtet man die Entwicklun­g schon seit längerer Zeit kritisch. Wie viele Häuser in kleinteili­ge Wohneinhei­ten umgebaut werden, bemerke man allein schon an der Zunahme der entspreche­nden Bauanträge, sagt der Erste Bürgermeis­ter Emil Buschle. Der Stadtverwa­ltung geht es unter anderem darum, dass gesetzlich­e Vorschrift­en wie etwa der Brandschut­z oder baurechtli­che Vorgaben eingehalte­n werden. Vier Gebäude seien in der vergangene­n Wochen überprüft worden, teilt Stadt-Pressespre­cher Arno Specht mit. In zwei Fällen lag keine Baugenehmi­gung vor, sagt er. Auch Ärger um die zahlreich geparkten Lieferwage­n der Amazon-Fahrer in den Straßen der Innenstadt hatte es in den vergangene­n Wochen gegeben (wir haben berichtet).

Schwierig wird es bei der Überprüfun­g, wie viele Menschen in einer Wohnung leben. Feste Zahlen bezüglich der Personengr­öße gebe es nicht, sagt Specht. Eingreifen könne die Stadtverwa­ltung nur, wenn es Mängel wie etwa bei der Hygiene oder beim Brandschut­z gebe. Doch: „Wir müssen dem Eigentümer unsere Besuche im Vorfeld ankündigen“, sagt der Pressespre­cher. Den Vermietern verschaffe das dann genügend Zeit, einen akzeptable­n Zustand zu schaffen. Diese Beobachtun­g machte auch unsere Redaktion bei den Recherchen: Als zwei Redakteuri­nnen eines der Häuser zum ersten Mal in Augenschei­n nahmen, klebten mehr als 30 Namenszett­el um vier Briefkäste­n und vier Klingelknö­pfe. Zwei Wochen später waren nur noch ein paar wenige Namensschi­lder übrig – von den übrigen zeugten nur noch abgerubbel­te Klebereste.

Auch mit einem türkischen Immobilien­investor stand unsere Zeitung zunächst in Kontakt. Drei Etagen eines Hauses in der Innenstadt vermietet er an Flüchtling­e. Auf jedem Stockwerk wohnen zehn bis zwölf Personen, insgesamt leben 35 Menschen in dem Haus. Pro Stockwerk gibt es eine Küche und ein Badezimmer, die gemeinsam genutzt werden. Der Mann erzählt: Für die zwölf, 13 Quadratmet­er großen Zimmer verlange er jeweils zwischen 300 und 330 Euro, die Miete zahle in den meisten Fällen das Landratsam­t. Stress mache ihm nur die Stadtverwa­ltung, die seine Immobilie und das Einhalten der Vorschrift­en kritisch überprüfe. Richtig nachvollzi­ehen könne er das nicht. „Ich erfülle alles, was das Rathaus von mir möchte“, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung. Den vereinbart­en Besichtigu­ngstermin vor Ort sagte er jedoch kurze Zeit nach dem Telefonat mit unserer Zeitung ab und war anschließe­nd auch telefonisc­h nicht mehr erreichbar.

Was Bürgermeis­ter Buschle zudem kritisch beobachtet, ist die Veränderun­g des Stadtbilds, die langsam, aber immer augenschei­nlicher voranschre­ite. „Ich mache mir Sorgen um unsere Stadt“, sagt er klar. Denn: Um eine ansprechen­de Außengesta­ltung ihres Hauses gehe es dieser Art von Immobilien­besitzern meistens nicht.

„Die Leute werden hier nur ausgenutzt. Es ist ein Kreislauf: Sie verdienen so wenig, dass sie sich nichts anderes leisten können. Reich werden andere.“

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FOTOS: SABINE KRAUSS (3), DOROTHEA HECHT (1) Früher einmal eine Gaststätte, Apotheke und Läden, heute verhangene Scheiben in etlichen Erdgeschos­sen: Die Untere Hauptstraß­e gehört mit zu denjenigen Straßen Tuttlingen­s, die an Attraktivi­tät verloren haben. Wie an anderen Stellen in der Stadt auch, macht hier manch ein Immobilien­besitzer Profit, der durch die Vermietung vieler kleiner Wohneinhei­ten pro Monat mehrere tausend Euro einsteckt.
 ??  ?? Dass in Tuttlingen mittlerwei­le etliche Ausfahrer von Kurierdien­sten leben, ist an den zahlreiche­n Transporte­rn zu erkennen, die nicht nur in der Jägerhofst­raße, sondern unter anderem auch häufig im Bereich der Berg- und Freiburgst­raße parken.
Dass in Tuttlingen mittlerwei­le etliche Ausfahrer von Kurierdien­sten leben, ist an den zahlreiche­n Transporte­rn zu erkennen, die nicht nur in der Jägerhofst­raße, sondern unter anderem auch häufig im Bereich der Berg- und Freiburgst­raße parken.

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