Suezkanal-Krise als Lehrstück für Terroristen
Havarie des Frachters „Ever Given“demonstriert Anfälligkeit weltweiter Handelsströme
ISTANBUL - Im Suezkanal strandet ein Schiff – und in Europa werden Kaffee und Toilettenpapier knapp: Die Havarie des Containerfrachters „Ever Given“hat die Störanfälligkeit der weltweiten Handelsströme demonstriert. Einige der mehr als 400 Schiffe, die wegen dem Stau an dem Kanal aufgehalten worden sind, haben Öl und Gas geladen, andere haben Kaffeebohnen und Rohstoffe für Toilettenpapier an Bord, die jetzt erheblich später in Europa ankommen werden als geplant.
Der Verkehr auf der wichtigen Wasserstraße zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer läuft zwar wieder, doch es wird Tage dauern, bis alle wartenden Schiffe ihre Fahrt fortsetzen können. Diese Erschütterung des Welthandels an dem Kanal, durch den zehn Prozent des internationalen Seehandels fließen, könnte Extremisten auf Gedanken bringen, befürchten einige Beobachter.
Der Suezkanal liegt nahe am Jemen, wo seit sechs Jahren Krieg herrscht und wo die Huthi-Rebellen mit Drohnen- und Raketenangriffen auf Saudi-Arabien mehrmals bewiesen haben, dass sie auch weit jenseits der Landesgrenzen zuschlagen können. Auf der Sinaihalbinsel am Ostufer des Kanals bekämpfen ägyptische Sicherheitskräfte seit Jahren die Extremisten des sogenannten Islamischen Staates. Die Dschihadisten töten nach eigenen Angaben Hunderte Menschen jedes Jahr bei Anschlägen in dem Gebiet. Vor acht Jahren griffen Mitglieder der islamistischen Furkan-Brigaden zwei Schiffe auf dem Suezkanal mit Panzerfäusten an. Es blieb bei leichten Sachschäden.
In der Vergangenheit musste der Kanal zweimal wegen Kriegen in der Region schließen. Im Jahr 1956 griffen Israel, Großbritannien und Frankreich den Kanal an, nachdem der damalige ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser die Wasserstraße verstaatlicht hatte. Der Angriff scheiterte, doch der Kanal blieb über Monate gesperrt. Wesentlich länger dauerte eine Schließung nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967, als Israel die Sinaihalbinsel eroberte: Damals wurde der Kanal erst 1975 wieder geöffnet.
Krisen dieser Dimension drohen derzeit nicht. Nicht zuletzt wegen der klaren ägyptischen Kontrolle über die Kanalregion sei der Suezkanal „kein einfaches Ziel für Extremisten“, sagt Dirk Kunze, Regionaldirektor der Friedrich-Naumann-Stiftung für Nahost und Nordafrika. Der Kanal sei sicherer als etwa der Persische Golf, an dem sich politische Gegner wie Saudi-Arabien und der Iran direkt gegenüberstehen, sagte Kunze der „Schwäbischen Zeitung“.
Doch der Suezkanal hat durchaus Gefahrenpotenzial, meint James Stavridis, pensionierter USAdmiral und früherer Kapitän des Flugzeugträgers „Enterprise“.
Mehrmals habe er bei Durchfahrten durch den Kanal Waffen an seine Mannschaft ausgeben und sein Schiff von Hubschraubern begleiten lassen, weil es terroristische Drohungen gab, schrieb Stavridis im US-Magazin „Time“. Joshua Hutchinson, Chef der auf Sicherheit der Seeschifffahrt spezialisierten Beraterfirma ARX Mouldings, sagte der britischen Zeitung „Independent“, die vielen Schiffe, die in den vergangenen Tagen wegen des Unfalls der „Ever Given“vor dem Kanal warten mussten, seien leichte Ziele für Anschläge.
Auch der Umweg um das Horn von Afrika, der für Schiffseigner wegen des Staus am Suezkanal wieder attraktiver geworden ist, hat seine Risiken. Dazu gehören Angriffe von Piraten vor der Küste Somalias, wo ein internationaler Marineverband mit deutscher Beteiligung die Schifffahrt schützen soll. Wenn es jetzt wegen der Krise um die „Ever Given“wieder mehr Schiffsverkehr in der Region gebe, „könnte das somalischen Piraten die Chance geben, Schiffe anzugreifen“, warnt der internationale Schiffseigner-Verband
Bimco.
Piraten lauern auch vor der afrikanischen Westküste, wo allein im vergangenen Jahr 130 Seeleute von ihren Schiffen geholt und entführt wurden. Einige Branchenvertreter sprechen wegen der Risiken des erhöhten Frachterverkehrs um Afrika herum mit der US-Kriegsmarine über die Möglichkeit militärischer Eskorten für Handelsschiffe, wie die „Financial Times“meldet. „Der Zwischenfall mit der ‚Ever Given‘ ist ein Weckruf“, schrieb der Nahost-Experte Theodore Karasik in der Zeitung „Arab News“.
Auch Joe Macaron von der Denkfabrik Arab Center in Washington mahnt ein umfassendes Nachdenken über die Lehren aus dem Unfall an. Weil bei der Havarie der „Ever Given“keine Gewalt von außen im Spiel war, werde bei der Aufarbeitung möglicherweise nicht so sehr auf die Sicherheitsaspekte geschaut, sagte Macaron der „Schwäbischen Zeitung“. Dennoch werde eine langfristige Strategie gebraucht, um den Risiken von Piratenangriffen oder Terroranschlägen zu begegnen.