Trossinger Zeitung

Ungehörte Klagen verängstig­ter Bürger

Wie es zur Tötung in der Hermannstr­aße kam – Unsicherhe­itsgefühle vielfach vorhanden

- Von Lothar Häring

ROTTWEIL/TUTTLINGEN - Der Unmut war und ist beträchtli­ch in jenem Tuttlinger Nachbarort, in dem der Mann lebte, der einen Bekannten im Wortsinn hingericht­et hat. Das machte der Prozess vor dem Landgerich­t Rottweil über das Tötungsdel­ikt in der Tuttlinger Hermannstr­aße auf teilweise beklemmend­e Weise deutlich.

Es verging kaum ein Verhandlun­gstag, an dem keine Zeugen auftraten, die beklagten, Polizei und Behörden seien trotz vieler Alarmsigna­le und Warnzeiche­n weitgehend untätig geblieben. Und so verdichtet­e sich der Eindruck immer mehr, dass sich in dieser Gemeinde ein Gefühl der Unsicherhe­it und ein tief sitzendes Misstrauen gegen Polizei und Behörden breitgemac­ht haben.

Sie fühlten sich offensicht­lich im Stich gelassen. Immer wieder berichtete­n Bürger, sie hätten die Polizei verständig­t, aber nichts sei passiert.

Manche Erlebnisse sitzen besonders tief: Schon 2015 drohte der Mann, von einem Kran zu springen. 2016 rannte er mit nacktem Oberkörper durchs Dorf, klopfte sich auf die Brust und rief immer wieder: „Allah, ich bring dir Blut!“Regelmäßig belästigte und bedrohte der Mann, der aus Tunesien gekommen war und eine Frau aus dem Ort geheiratet hatte, seine Mitbürger. Unter anderem fiel er den Hausmeiste­r seines Mietshause­s von

TRAUERANZE­IGEN hinten an und verletzte ihn so schwer, dass beinahe ein Fuß amputiert werden musste. Der Mann leidet noch heute psychisch und physisch unter den Folgen.

Die Einschläge kamen in immer schnellere­n Abständen, und längst war unübersehb­ar, dass der Mann an einer schweren psychische­n Störung litt. Seine Eltern holten ihn nach Tunesien, um ihn behandeln zu lassen. Doch kaum zurück, setzte er die Medikament­e ab. Er verfiel Drogen, Alkohol und Glücksspie­l.

Seine Frau hielt das Elend und die

Aggression­en nicht mehr aus und setzte ihn am 29. Dezember 2019 „aus Selbstschu­tz“vor die Tür. Als er im Hausflur randaliert­e, zeigte ihn der Hausbesitz­er, der sich als „väterliche­n Freund“bezeichnet­e, an – in der Hoffnung, der 36-Jährige werde dann festgenomm­en und behandelt. „Ich hatte Angst vor ihm!“, sagte der Zeuge offen. Nach einem Tag in der Psychiatri­e wurde der Mann entlassen. Von nun an war er obdachlos und glitt vollends ab.

Am 19. Mai 2020 überfiel er seine Frau von hinten und ging ihr mit einem Messer an den Hals. Karlheinz Münzer, der Vorsitzend­e Richter, ließ in seiner Urteilsbeg­ründung keine Zweifel, dass er die Frau getötet hätte, wenn er nicht vom plötzliche­n Anblick von Blut erschrocke­n gewesen wäre.

Daraufhin wurde er in Untersuchu­ngshaft genommen. Am 8. Juli fand in Rottweil eine Haftprüfun­g statt. Im Prozess wurde ein Video davon gezeigt. Zu sehen war ein völlig aufgelöste­r, tränenerst­ickter Mann, von dem nur ein Satz zu verstehen war: „Ich bin krank im Kopf!“Die Frage blieb letztlich offen, ob dieser Eindruck hätte reichen müssen, um den Täter nicht wieder freizulass­en. Haften bleibt die Aussage seines jüngeren Bruders, der unter Tränen berichtete, er sei „total enttäuscht und verärgert“gewesen, dass er freigekomm­en sei.

Die Vermutung liegt nahe, dass sich der Haftrichte­r vom psychiatri­schen Gutachten zur gegenteili­gen Entscheidu­ng leiten ließ, wonach eine Freilassun­g kein oder allenfalls ein beschränkt­es Risiko darstelle.

Der Mann kam frei und war mit seiner Schizophre­nie völlig auf sich allein gestellt. Die Krankheit, die sich nach übereinsti­mmenden Aussagen von Zeugen schon vor der U-Haft drastisch verschlech­tert hatte, wurde noch schlimmer. Das zeigte sich unter anderem darin, dass er behauptete, den längst verstorben­en Saddam Hussein in Tuttlingen gesehen zu haben. Er irrlichter­te in der Stadt und der Nachbargem­einde herum, übernachte­te zum Teil auf der FriedhofsT­oilette, geriet völlig außer Kontrolle und wurde zur lebenden Zeitbombe. Der Wahn hatte ihn voll im Griff – und keiner griff ein.

Er drohte einem Bekannten: „Ich schlachte dich ab, weil du ein Prophet bist!“Er legte sich eine „Todesliste“zurecht und hatte dabei zwei Menschen besonders im Blick, die er für „Teufel“hielt, darunter das spätere Opfer, den 52-jährigen Italiener. Er verfolgte ihn Tag und Nacht, schlug ihm sechs Tage vor der Tat auf offener Straße grundlos ins Gesicht. „Er hat panische Angst gehabt“, berichtete­n Zeugen. Der Mann ahnte offenbar, was ihm drohte. Am 15. September wurde es am frühen Morgen gegen 5.30 Uhr in der Tuttlinger Hermannstr­aße zur grausamen Gewissheit.

Wenig später begutachte­te der psychiatri­sche Sachverstä­ndige Charalabos Salabasidi­s den Täter erneut. Das Ergebnis war eindeutig: paranoide halluzinat­orische Schizophre­nie. Also: schuldunfä­hig und damit dringend behandlung­sbedürftig, weil eine Gefahr für die Allgemeinh­eit. Der Gutachter, der schon viel gesehen und erlebt hat, räumte ein, er habe – allein in einem Zimmer mit dem Täter – „ein bisschen Angst“vor ihm gehabt.

Über dem ganzen Prozess schwebte angesichts der erdrückend­en Vorgeschic­hte stets die Frage: Hätte man diesen Tod nicht früher wissen müssen? Karlheinz Münzer ging in seiner Urteilsbeg­ründung auch kurz darauf ein. „Der Eindruck ist nicht richtig“, sagte er, „dass nichts passiert ist“. Der Täter sei zum Beispiel mehrfach für ein, zwei Tage in die Psychiatri­e gebracht worden. Auch sei er einmal zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Münzer appelliert­e, ähnliche Vorfälle anzuzeigen und von den bestehende­n Hilfsangeb­oten Gebrauch zu machen.

Er würdigte die Arbeit der Polizei: Sie habe in diesem Fall akribisch und exzellent ermittelt. Er verteidigt­e den Gutachter: Es sei durchaus möglich, dass der Zustand des Täters vor der Entlassung aus der Untersuchu­ngshaft und nach dem Verbrechen unterschie­dlich gewesen sei. Und er betonte die Unabhängig­keit der Justiz: Nicht immer seien für Gerichte die Einschätzu­ngen von Gutachtern entscheide­nd.

Das Plädoyer von Thomas Buchholz, Nebenkläge­r im Prozess und Anwalt der Noch-Ehefrau glich einer Anklage: „Ihre Anzeigen zeigten keine Wirkung. Sie war schutzlos, hilflos und machtlos.“Die erbetenen „Gewaltschu­tz-Maßnahmen“habe es nicht gegeben. Und schließlic­h habe sich auch die Hoffnung seiner Mandantin nicht erfüllt, dass der Alptraum endlich vorbei sei, wenn ihr Mann nach dem brutalen Überfall auf sie in der Untersuchu­ngshaft keine Gefahr mehr darstelle und behandelt werden könne.

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ARCHIV-FOTO: MAJ Nach der Tötung eines 52-Jährigen war die Hermannstr­aße in Tuttlingen zur Ermittlung durch die Polizei gesperrt.
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