Der Tag der Entscheidung
Grüne erklären, mit wem sie die kommenden fünf Jahre regieren wollen
STUTTGART - Donnerstag ist immer Entscheidungstag: Wer fliegt raus? Wer darf weitermachen? Darüber entscheidet vor allem eine Person: Heidi Klum. Etwa zweieinhalb Millionen Zuschauer der Castingshow Germany’s Next Topmodel warten ebenso wie die Wettbewerberinnen allwöchentlich auf den vernichtenden Satz der sogenannten ModelMama Klum am späten Abend: „Ich habe heute leider kein Foto für Dich.“Was soviel heißt wie: Du bist ausgeschieden, Dein Model-Traum platzt gerade. Der Satz, den Ministerpräsident Winfried Kretschmann heute sprechen wird, wird ein gänzlich anderer sein. Der Effekt ist aber derselbe: Auch er erteilt heute einem oder gleich mehreren Bewerbern eine Absage. Denn nur ein Bündnis kann Baden-Württembergs next Regierungskoalition werden.
Was bisher geschah: Die Grünen haben bei der Landtagswahl vor zweieinhalb Wochen mit 32,6 Prozent der Stimmen ein historisches Ergebnis eingefahren. Die einstige Baden-Württemberg-Partei CDU erlebte mit 24,1 Prozent einen neuen Tiefpunkt. Das gilt zwar auch für die SPD mit ihren elf Prozent, doch im Gegensatz zur CDU sprühen die Sozialdemokraten geradezu vor Zweckoptimismus. Denn mit guter Laune und der unbändigen Lust auf Regieren lässt sich vielleicht ein Ampelbündnis schmieden.
Kameraschwenk auf die FDP: Die Liberalen sind stolz und frisch gestärkt durch ein fulminantes Wahlergebnis von 10,5 Prozent. Inhaltliches Fremdeln zwischen SPD und FDP? Längst passé. Mögen die Überzeugungen der Starker-Staat- und der Freier-Markt-Partei noch so unterschiedlich sein: Bei jedem Thema lässt sich ein Laufsteg, pardon, eine Brücke bauen, betonen die Verhandlungsführer. Sie wissen: Nur gemeinsam haben sie eine Chance gegen die bisherige Favoritin CDU.
Wer also bekommt heute das so begehrte Foto mit Kretschmann? Die Frage ist noch offen, der Regieplan steht aber. Dreimal hat das Verhandlungsteam der Grünen die möglichen Bündnispartner zu Sondierungsgesprächen eingeladen – zunächst alle getrennt voneinander, zuletzt durften sich SPD und FDP gemeinsam vor der Jury präsentieren. Am Dienstag hat sich die Grünen-Gruppe über die Ergebnisse mit dem Landesvorstand der Partei ausgetauscht. Am Mittwoch saß die Jury noch mal zusammen, um eine Entscheidung zu treffen. Wie bei
GNTM, wie Kenner Klums ModelShow nennen, entscheidet nämlich auch bei diesem Casting nicht allein Kretschmann. Sein Votum hat aber mehr Wucht als das der anderen Jury-Mitglieder. Denn das Grünen-Ergebnis der Landtagswahl ist unbestritten zu großen Teilen ein Erfolg des beliebten Regierungschefs.
Endgültig entscheiden muss am Donnerstagfrüh der Grünen-Landesvorstand. Danach wird die Landtagsfraktion informiert. Um 12 Uhr darf der oder dürfen die Wunschpartner erneut ins Stuttgarter Haus der Architekten kommen, wo Presse und Paparazzi wie bei den Sondierungen längst warten werden. Die Grünen möchten schriftlich festhalten, worauf sich die künftigen Regierungspartner bei den bisherigen Gesprächen verständigt haben – als Grundlage für die detaillierteren Koalitionsverhandlungen. Um 15 Uhr folgt das Gewinnerfoto – im Gegensatz zu GNTM wohl aber ohne Tränen, Fächeln und Freudensprünge.
Wer hat die Nase vorn? Noch ist das ein so gut gehütetes Geheimnis wie die Entscheidung, wer dieses Jahr im GNTM-Finale stehen wird. Die Meinungen aus informierten Kreisen haben sich häufig gedreht. Klar ist: Der erfahrene Regierungschef Kretschmann hat in seinen beiden bisherigen Legislaturperioden mit allen handelnden Akteuren Erfahrung gesammelt, wenn er auch nicht ganz so lange an der Spitze ist wie Heidi Klum, die fünf Jahre länger – zeitlich gesprochen eine Legislaturperiode – an der Spitze ihrer Show steht. Kretschmann hat schon mit der SPD regiert, deren Chef Andreas Stoch unter ihm Kultusminister war. Mit der CDU regieren die Grünen aktuell das Land. Auch die FDP um Hans-Ulrich Rülke kennen die Grünen ausgesprochen gut aus dem Landtag – ihn bislang aber vornehmlich als scharfzüngigsten Fraktionschef der Opposition.
Vor allem drei Qualitäten mussten die Bewerber um die Gunst der Grünen mitbringen: viel Engagement für den Klimaschutz, ein klares Bekenntnis zu Innovation und für den sozialen Zusammenhalt. Und verlässlich muss es sein, dieses Bündnis. Bei den drei inhaltlichen Punkten zeigten sich die Bewerber dem Vernehmen nach maximal flexibel. Der grüne Wunsch nach einer Photovoltaik-Pflicht auch auf neuen Wohnhäusern? Was die CDU noch vor einem halben Jahr beim Klimaschutzgesetz abgelehnt hat und was den Liberalen als überzeugte Gegner von regulatorischen Eingriffen per se gegen den Strich geht, scheint nun überhaupt kein Problem mehr zu sein.
Bleibt die Frage der Verlässlichkeit. Gerade daran hat es zuletzt in der Kiwi-Koalition gehakt. Schuld war allein die Spitzenkandidatin und Noch-Kultusministerin Susanne Eisenmann, betonen CDU-Lenker. Das Vertrauen zwischen Kretschmann und seinem Vize, CDU-Landeschef Thomas Strobl, sei indes enorm. Doch wer sagt den Grünen, wie lange sich Strobl nach dem Wahldesaster an der Spitze der Partei halten kann? Wer garantiert Kontinuität? NochFraktionschef Wolfgang Reinhart, dessen Tage gezählt scheinen? Senkrechtstarter Manuel Hagel, der als Generalsekretär den Wahlausgang mitzuverantworten hat, was bisher aber niemand von ihm verlangt?
Andererseits: Wie verlässlich ist die mit neuem Selbstvertrauen gedopte FDP? Und sollen die Grünen ein an sich schwieriges Bündnis mit zwei Partnern wagen statt mit einer geschwächten CDU, die nun ganz klar der Juniorpartner wäre? All das vor dem Hintergrund, dass die Welt weiter mit einer Pandemie kämpft und die finanziellen Spielräume wegen milliardenschwerer Kreditaufnahmen zum Abfedern der CoronaKrise massiv geschrumpft sind.
Wer wird also neben den Grünen fürs Foto posen dürfen? Das wird sich am Donnerstag zeigen, denn dann ist wieder Entscheidungstag.