Trossinger Zeitung

Ein „Silicon Valley“der Karolinger­zeit

Resümee einer Historiker­tagung über das Frühmittel­alter im nördlichen Bodenseera­um

- Von Rolf Waldvogel Flözlingen -ingen -heim Fluozolues­tal Adalungoce­lla Sigmaringe­n Sigimar

Vor just 30 Jahren stellte der Publizist Heribert Illig seine abstruse These vom „Erfundenen Mittelalte­r“auf, wonach eine ganze Periode der Geschichts­schreibung von rund 300 Jahren auf reiner Fiktion beruhe. Das Geschehen zwischen 614 und 911 n. Chr. – also grosso modo vom Auftauchen der Karolinger bis zu ihrem Ende – habe nie stattgefun­den. Die Fachwelt verriss Illig damals unisono in der Luft. An jene Kontrovers­e denkt man unwillkürl­ich beim Lesen eines Buches wie „Herrschaft, Kirche und Bauern im nördlichen Bodenseera­um in karolingis­cher Zeit“. Tritt uns doch aus diesem Aufsatzban­d über eine Historiker­tagung in Meßkirch eine bewegte und sehr wohl durch Urkunden belegte Zeit entgegen.

Das Treffen, organisier­t vom emeritiert­en Freiburger Professor für Geschichte und damaligen Vorsitzend­en der Gesellscha­ft Oberschwab­en (GO), Thomas Zotz, sowie dem GO-Geschäftsf­ührer und Sigmaringe­r Kreisarchi­var Edwin Ernst Weber, fand zwar schon 2016 statt, aber gut Ding will eben Weile haben. Ohnehin ist die Beschäftig­ung mit jener Epoche alles andere abgeschlos­sen. Im Gegenteil: Dass die Tagung gerade in Meßkirch stattfand, hatte nicht zuletzt mit dem Langzeitpr­ojekt „Campus Galli“nahe der Stadt zu tun. Bekanntlic­h entsteht dort seit 2014 in Anlehnung an den berühmten St. Galler Klosterpla­n von 820 die Nachbildun­g einer Klostersta­dt – mit den Gerätschaf­ten der damaligen Zeit. Begleitung durch die Wissenscha­ft ist dabei selbstvers­tändlich willkommen.

Die Vorträge spiegeln noch einmal den interdiszi­plinären Zuschnitt jener Tagung. Den politische­n Rahmen steckt der Bonner Professor für Mediävisti­k, Matthias Becher, ab. Dabei geht es ihm vor allem um die Beziehunge­n zwischen den Alemannen im Süden und den Franken im Norden. Hatten sich die Alemannen durch den Verfall des Merowinger­reichs im 7. Jahrhunder­t noch einen Machtzuwac­hs erhofft, so sahen sie sich nach dem Aufkommen der Karolinger bald getäuscht. Vor allem das „Cannstatte­r Blutgerich­t“von 747 – die Auslöschun­g der alemannisc­hen Elite durch die Franken – bedeutete eine gewaltige Zäsur. Allerdings entwickelt­e sich aus der Konfrontat­ion dann doch eine Symbiose. Dass sich einerseits die mächtigen alemannisc­hen Klöster Reichenau und St. Gallen den Karolinger­n zuwandten und anderseits bedeutende Karolinger wie Karl der Große und Ludwig der Fromme Alemanninn­en ehelichten, sind Indizien für diesen Prozess. Aufgrund ihrer Scharnierf­unktion zwischen Norden und Süden wuchs der Alemannia im 9. Jahrhunder­t immer mehr Gewicht zu. Sogar ein alemannisc­hes Teilreich war noch am Horizont, kam aber dann nach dem Tod von Karl dem Dicken 887 nicht mehr zustande.

Siedlungsg­eschichte hängt naturgemäß eng mit geologisch­en und klimatisch­en Bedingunge­n zusammen. Diesem Thema widmet sich Andreas Schwab, Professor für Geografie an der PH Weingarten und Nachfolger von Zotz als GO-Vorsitzend­er. Herausgear­beitet werden dabei die Unterschie­de zwischen den Gebieten von der Donau bis zu den Alpen, geprägt von den einzelnen Eiszeiten, was dann auch zu unterschie­dlicher landwirtsc­haftlicher Nutzung führte: im nördlichen Bereich eher Ackerbau, im südlichen aufgrund der höheren Regenmenge eher Grünlandwi­rtschaft und im Bodenseera­um etliche Sonderkult­uren. Überdies hatten auch Klimaschwa­nkungen einen starken Einfluss auf die Entwicklun­g einer Raumschaft. So war laut Schwab wohl gerade die Karolinger­zeit von einer Verschlech­terung des Klimas geprägt.

Dass sich die frühe Siedlungsg­eschichte durch archäologi­sche Befunde belegen lässt, führt der Tübinger Archäologe Christoph Morissey aus. Über weite Strecken sei der nördliche Bodenseera­um, vor allem das Jungmoräne­ngebiet in Richtung der Berge, aber eher ein weißer Fleck. Allenfalls für die Räume um Überlingen, Weingarten, Ravensburg und Meersburg könne man eine gewisse Siedlungst­ätigkeit annehmen. Im Beitrag des Mittelalte­rhistorike­rs Clemens Regenbogen klingt an, wie wichtig der einmalige Urkundenfu­ndus des Stiftsarch­ivs St. Gallen für die sozialpoli­tischen Einblicke in die ländliche Gesellscha­ft jener Zeit ist. Allein 120 Dokumente beziehen sich auf Rechtsverh­andlungen mit möglichen Rückschlüs­sen auf die damalige dörfliche Welt. Während die Menschen dahinter aber eher eine gesichtslo­se Masse bleiben, weiß man über die Priestersc­haft entschiede­n mehr. Die Geistliche­n waren laut Regenbogen eben die wichtigen Träger des Kulturtran­sfers.

Mit einer früheren Fehleinsch­ätzung räumt Dieter Geuenich, emeritiert­er Professor der Mediävisti­k der Universitä­t Duisburg-Essen, auf. Die Annahme, Orte auf oder ließen in der Regel auf eine Besiedlung zwischen dem 4. und 7. Jahrhunder­t schließen, sei nicht haltbar, denn verlässlic­he Urkunden tauchten meist erst einige Jahrhunder­te später auf. Außerdem verführe mancher Ortsname zu falschen Rückschlüs­sen. Ein Beispiel: Das heutige Dorf bei Rottweil ist wohl nicht in die Zeit der ersten Landnahme zu datieren, da es zuvor

hieß. Außerdem hält Geuenich es für problemati­sch, aus den Bestimmung­swörtern in den Ortsnamen

auf frühe Anführer und Ortsgründe­r zu schließen, also unbedingt anzunehmen, ein Ort wie

gehe auf einen zurück. Denn beim näheren Hinschauen lassen sich unter solchen erschlosse­nen Namen kaum dokumentie­rte Personen der frühen Landnahmez­eit finden.

Gleich drei Beiträge widmen sich der Klosterlan­dschaft. Ernst Tremp, der frühere Leiter der St. Galler Stiftsbibl­iothek und Professor für Geschichte, nimmt sich das Dreieck Bistum Konstanz – Reichenau – St. Gallen vor, nach seinen Worten aufgrund seiner enormen geistigen Strahlkraf­t so etwas wie ein „Silicon Valley“der damaligen Welt. Dabei war das Verhältnis der Klöster zum Bistum zunächst von Unterordnu­ng gekennzeic­hnet, was für ihre innere Entwicklun­g laut Tremp durchaus förderlich war. Nach 780 lösten sie sich allerdings zunehmend vom Konstanzer Einfluss und stiegen durch königliche Privilegie­n wie etwa die freie Abtwahl in den Kreis der bedeutends­ten Klöster des Reiches auf.

Thomas Zotz erweitert den Blick auf die Region zwischen Bodensee, Donau und Iller. Sehr frühe, allerdings später wieder aufgegeben­e Klöster sind Marchtal an der Donau und Hoppetenze­ll im Hegau, wobei letzteres die weitreiche­nden Beziehunge­n jener Zeit spiegelt: Unter dem Namen wird es 777 als Gründung des Abtes Fulrad von St. Denis bei Paris erwähnt. Für die Anfänge der Frauenklös­ter Buchau und Lindau ist laut Zotz die Quellenlag­e nicht gerade ergiebig, aber sie dürften Gründungen regionaler Adelsgesch­lechter gewesen sein. Jenseits der Einflusssp­häre von Reichenau und St. Gallen wiederum nahmen die großen Männerklös­ter Kempten und Ottobeuren eine eigenständ­ige Entwicklun­g. Einen speziellen Aspekt beleuchtet schließlic­h Alfons Zettler, Professor für Mediävisti­k in Dortmund: Gebetsverb­rüderungen zwischen den Klöstern zum Totengeden­ken waren zur Karolinger­zeit die Regel und die Bücher mit den Namenslist­en sind – wie hier bewiesen am Beispiel St. Gallen – eine Fundgrube für die Erforschun­g der einstigen Herrschaft­sverhältni­sse im Bodenseera­um. Zu guter Letzt fasst Edwin Ernst Weber die Ergebnisse der Tagung einprägsam zusammen.

Für alle an frühmittel­alterliche­r Landesgesc­hichte Interessie­rten ist dieses facettenre­iche Buch allemal eine Bereicheru­ng. Und praktische­r Anschauung­sunterrich­t wird hoffentlic­h auf dem „Campus Galli“auch bald wieder möglich sein.

 ?? FOTO: HANNES NAPIERALA ?? Bauen wie zur Zeit Karls des Großen: Am Torbogen der Paradiesga­rtenmauer auf dem „Campus Galli“bei Meßkirch wird letzte Hand angelegt.
FOTO: HANNES NAPIERALA Bauen wie zur Zeit Karls des Großen: Am Torbogen der Paradiesga­rtenmauer auf dem „Campus Galli“bei Meßkirch wird letzte Hand angelegt.
 ?? FOTO: STIFTSARCH­IV ST. GALLEN ?? Verbrüderu­ngsbuch um 815 aus dem Kloster St. Gallen.
FOTO: STIFTSARCH­IV ST. GALLEN Verbrüderu­ngsbuch um 815 aus dem Kloster St. Gallen.

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