„Rausgehen – das ist das, was wir tun können“
Nervenarzt Frieder Böhme erklärt, was die Corona-Einschränkungen mit der Psyche machen
TUTTLINGEN - Ein Jahr mit Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und vielen Verzichten: Viele Menschen sehnen sich mittlerweile ein Ende der Einschränkungen herbei. Redakteurin Sabine Krauss hat sich mit dem langjährigen Tuttlinger Psychiater Frieder Böhme unterhalten, welche Auswirkungen die Corona-Zeit auf die Psyche der Menschen hat und wie man am besten damit umgeht.
Herr Böhme, kann man überhaupt verallgemeinernd sagen, dass die seit einem Jahr andauernde Corona-Situation Auswirkungen auf die Psyche des Menschen hat?
Ja, die über einjährige Situation hat massive Folgen für die seelische und psychische Verfassung. Das ist offensichtlich und man muss kein Fachmann sein, um das zu erkennen. Nachdem am Anfang eine positive Grundstimmung bestand, ist diese nun einer eigenartigen Müdigkeit, einer Art Resignation, gewichen. Das fällt schon in der Warteschleife vor dem Bäcker auf: Da war in den ersten Monaten eine andere Atmosphäre, man hat sich untereinander positiv über die Situation verständigt. Jetzt schaut man sich resigniert an. Es herrschte eine gewisse Grundverstimmung.
Woran liegt das in Ihren Augen?
Immer dann, wenn Belastungen auf Menschen zukommen, ist entscheidend, ob man daran glauben kann, dass es wieder besser wird. Die Hoffnung ist ein zentrales Instrument, um mit Belastungssituationen umzugehen. Geht das Hoffnungsgefühl jedoch verloren oder ist schwankend, umso mehr ist man dem Ganzen gegenüber hilflos ausgesetzt und weiß nicht mehr, wie es für einen subjektiv und objektiv weitergeht. Und diese Situation besteht gerade: Die Gefühle der meisten Menschen schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung.
Aber es geht uns materiell doch gut – warum macht sich dann trotzdem diese Müdigkeit und Resignation breit, von der Sie gerade sprachen? Es ist die Verunsicherung. Wir befinden uns nicht in der Situation einer Katastrophe oder eines Unglücks, in der man konkret reagiert und hanLebensfreude delt. Es ist schwieriger, da es sich um eine Krise handelt, die unübersichtlich ist und für die es nicht direkt eine Lösung gibt. Obwohl der tägliche Alltag für die meisten Menschen mit einigen Einschränkungen normal abläuft, bleibt da trotzdem das ständige Gefühl: „Wie wird es weitergehen, wird sich alles wieder zu einer Normalität wenden?“Die aktuelle Situation macht uns alle sehr unsicher.
Nun ist ja auch die soziale Teilhabe durch die Kontaktbeschränkungen und Lockdowns seit vielen Monaten sehr eingeschränkt. Welche Rolle spielt das?
Dieser Punkt ist ganz entscheidend. Die soziale Teilhabe ist wichtig, wenn nicht sogar lebenswichtig. Wir sind es ja gewohnt, dass wir von Kindheit an ständig in vielfacher sozialer Teilhabe stehen. Diese ist nun eingeschränkt. Dazu kommt, dass das Besondere aus unserer Alltagsstruktur herausfällt: Es gibt keinen Kirchenchor mehr, keinen Sportverein, keinen Gaststätten-Besuch. Dadurch geht bei vielen Menschen die des Alltags verloren. Doch: Nicht alle Gruppen der Bevölkerung sind gleich stark belastet, da gibt es große Unterschiede.
Welche Gruppen sind Ihrer Meinung nach am stärksten belastet? Die größte Gruppe in unserer Gesellschaft machen die Erwachsenen aus, die fest im Leben stehen. Sie sind durch die Corona-Situation zwar beeinträchtigt und empfinden die Einschränkungen oft als lästig, aber sie sind meistens nicht sehr belastet. Anders ist das meiner Meinung nach bei Alleinstehenden: vor allem bei einsamen, älteren Menschen. In Tuttlingen sind das sicher einige tausend Menschen. Hier sehe ich die psychische Gesundheit in Gefahr: Wenn sie alleine und verzweifelt in ihren Wohnungen sitzen, werden manche sicher auch deswegen krank. Die zweite Gruppe sind die Jugendlichen, die der Sache viel mehr ausgeliefert sind. Die noch keine Mechanismen gelernt haben, mit Belastungen solcher Art umzugehen und nun isoliert an ihren Endgeräten sitzen. Für Menschen zwischen zehn und 20 Jahren sind die sozialen Einschränkungen um einiges dramatischer als für Menschen zwischen 30 und 70.
Denken Sie, dass das Auswirkungen haben wird?
Ich befürchte, dass besonders bei den Jugendlichen die langfristigen Folgen erheblich sein werden. Ihnen fehlt etwas, das sie nicht bekommen haben, aber das sie für ihre Entwicklung brauchen: raus aus der Familie, etwas mit anderen unternehmen, in ihren Sportverein gehen. Das sind Dinge, die eben ganz wesentlich für ihre seelische und soziale Entwicklung sind. Das ist allerdings nur eine subjektive Einschätzung eines erfahrenen Nervenarztes. Es ist nicht belegbar, denn es hat bisher keine vergleichbaren Situationen gegeben. Ich würde aber dringend dazu raten, alles zu fördern, wo Kinder in soziale Bezüge miteinander geraten können. Das Risiko, das durch die Kontakte entsteht, können wir durch Testungen abmildern.
Was kann man selbst tun, um dem Corona-Verdruss entgegenzusteuern?
Das sind zum einen die allgemeinen Formen, wie wir generell mit Belastungen umgehen: Dass wir uns einen Alltag organisieren – auch innerhalb der Familie, mit Freunden, in der Nachbarschaft. Dass wir also nicht auf einem Punkt hängenbleiben und nur noch verunsichert und besorgt den Blick auf die Corona-Zahlen richten. Wichtig ist auch, dass wir uns bewegen und nicht nur vor Geräten sitzenbleiben. Das gilt für Kinder genauso wie für die Erwachsenen. Und: Wir sollten unsere sozialen Kontakte aufrechterhalten, das geht auch über das Internet und über das Telefon. Dabei muss man aber jedem zugestehen, dass er seine eigene Form der Bewältigung hat und selbst sagt: „So viel will ich zulassen und so viel nicht.“Aber: Man sollte sich trauen, seine Freunde und Bekannten zu fragen, was sich der andere zutraut – ein Treffen mit mehr oder weniger Abstand oder auch einfach nur ein Telefonat.
Stichwort Testungen: Helfen sie auch der Psyche?
Ja, Testungen sind sehr wichtig. Sie machen die Sache schon gedanklich lösbarer. Dadurch tritt eine innere Sicherheit auf und es geht einem seelisch viel besser. Man ist ja dann ganz verzweifelt, wenn man vor unlösbaren Situationen steht. Wenn man aber Sicherheiten findet, ob durch Schnelltests, Impfung oder andere Unterstützungen wie zum Beispiel ermutigende Gespräche, dann geht es leichter. Impfen, testen, miteinander sprechen, sich bewegen, rausgehen – das ist das, was wir tun können.