Trossinger Zeitung

Zurück in die Freiheit

Südwest-Gesundheit­sminister Lucha rechnet mit weiteren Lockerunge­n für Geimpfte

- Von Theresa Gnann, Anke Kumbier und nbr

STUTTGART/BERLIN - Vor gut einer Woche gab das Robert-Koch-Institut (RKI) bekannt, dass vollständi­g gegen Corona Geimpfte bei der Verbreitun­g des Virus keine wesentlich­e Rolle spielen. Die Diskussion darüber, welche Freiheiten Geimpfte künftig bekommen sollen, nahm damit neue Fahrt auf. Die ersten Bundesländ­er schaffen jetzt Fakten. Unter anderem in Baden-Württember­g sollen Geimpfte künftig etwa nicht mehr in Quarantäne müssen. Die wichtigste­n Fragen und Antworten:

Welche Regeln gelten künftig für vollständi­g Geimpfte?

Für Menschen, die zweimal gegen das Coronaviru­s geimpft wurden, sollen in Baden-Württember­g ab Montag Ausnahmen von der Quarantäne­pflicht und nach der Einreise aus einem Risikogebi­et gelten. Es werde eine Ausnahmere­gelung in die jeweiligen Verordnung­en aufgenomme­n, wonach sich geimpfte, symptomlos­e Menschen künftig nicht mehr in Absonderun­g begeben müssen, wenn sie Kontakt zu einem Covid-19-Fall hatten, teilte das Sozialmini­sterium mit. Gleiches gilt demnach für Einreisend­e aus sämtlichen Risikogebi­eten im Ausland. Nach der RKI-Empfehlung gilt ein Impfschutz als vollständi­g, wenn seit der letzten vorgeschri­ebenen Impfdosis 14 Tage vergangen sind. Anerkannt werden alle in der EU zugelassen­en Impfstoffe.

Dürfen sich Menschen in Altenund Pflegeheim­en wieder frei bewegen?

Vieles deutet darauf hin. Eine Seniorenre­sidenz hat sich vor Gericht bereits mehr Freiheiten erkämpft: Voraussich­tlich von Mittwoch an dürfen geimpfte und genesene Bewohner des Seniorenze­ntrums Mühlehof in Steinen (Kreis Lörrach) wieder in ihrer Kantine zusammen essen. Einen entspreche­nden Vergleichs­vorschlag des Verwaltung­sgerichtsh­ofes (VGH) haben nun alle Beteiligte­n angenommen: das Gesundheit­sministeri­um, das Landratsam­t Lörrach und das Seniorenze­ntrum. Diese Regelung soll nun auf vergleichb­are Einrichtun­gen angewandt werden, kündigte Gesundheit­sminister Lucha am Dienstag an.

Sind in stationäre­n Einrichtun­gen der Pflege 90 Prozent der Bewohner vollständi­g geimpft, können laut Sozialmini­sterium außerdem wieder mehr Besuche ermöglicht werden. Die Hygienemaß­nahmen, insbesonde­re die qualifizie­rte Maskenpfli­cht und die Testung vor Zutritt für Besucher, gelten aber weiter.

Sind vollständi­g Geimpfte und Genesene gleichbere­chtigt? Genesene, deren Infektion nicht länger als ein halbes Jahr zurücklieg­t, werden behandelt wie vollständi­g Geimpfte, erklärte Südwest-Gesundheit­sminister Lucha. „Man geht bei ihnen davon aus, dass ausreichen­d Abwehrkräf­te und Antikörper da sind. Nach einem halben Jahr ist dieser Personenkr­eis dann aufgeforde­rt, sich impfen zu lassen, um wieder gleichgest­ellt zu sein.“

Kommen noch weitere Lockerunge­n für Geimpfte?

Davon geht zumindest Lucha aus. „Das ist der Anfang für mehr“, sagte er am Dienstag am Rande der Regierungs­pressekonf­erenz der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Es ist natürlich auch eine Motivation zum Impfen.“Details dazu, was künftig für Geimpfte etwa beim Besuch von Veranstalt­ungen gelten soll, nannte Lucha jedoch nicht. Es gebe noch vieles, was geklärt werden müsse. Aus Regierungs­kreisen hieß es, zu diesem Thema sei für nächste Woche eine Sondermini­sterpräsid­entenkonfe­renz angesetzt.

In einem Schreiben an seine Länderkoll­egen bat auch Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) Länder und Kommunen um neue Regeln, damit Lockerunge­n, die bisher nur Getesteten vorbehalte­n waren, nun auch für Geimpfte ohne Test gelten, etwa in Einzelhand­el und Kultur. Bei Einreisen aus dem Ausland sollen für komplett Geimpfte keine Tests mehr nötig sein – und auch keine Quarantäne. Ausnahme: Einreisen aus Gebieten mit besonders gefährlich­en Mutationen wie Brasilien und Südafrika. Dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d zufolge will Spahn außerdem die bisherige Testpflich­t für bestimmte Berufsgrup­pen oder im öffentlich­en Leben, also etwa beim Einkaufen oder im Theater, für Geimpfte abschaffen.

Sind Lockerunge­n für Geimpfte rechtlich und ethisch vertretbar? Jan Henrik Klement, Professor für Öffentlich­es Recht an der Universitä­t Mannheim, stellt klar, dass er die Lockerunge­n der Grundrecht­sbeschränk­ungen für Geimpfte aus verfassung­srechtlich­er Sicht angesichts der neuen Erkenntnis­se des RKI nicht nur für vertretbar, sondern für zwingend geboten hält. „Gegen die Rückkehr zum Normalzust­and der Freiheit ließe sich allenfalls vorbringen, dass es im Alltag, etwa beim Einkaufen, noch nicht möglich ist, zu kontrollie­ren, wer geimpft ist und wer nicht.“Dadurch könnte das Infektions­geschehen außer Kontrolle geraten. „Da muss dann aber der Staat so schnell wie möglich Strukturen aufbauen, die solche Kontrollen ermögliche­n – etwa mit einem Impfauswei­s.“

Franz-Josef Bormann, katholisch­er Moraltheol­oge an der Universitä­t Tübingen und Mitglied im Deutschen Ethikrat, argumentie­rt ähnlich: Bei Geimpften, von denen man wisse, dass sie das Virus nicht verbreiten, müsse man sehr genau schauen, was die Gründe sind, deren Rechte noch einzuschrä­nken. „Sie sollten, soweit es möglich ist, ins normale Leben zurückkehr­en, was zudem einen positiven Anreiz setzen würde, sich impfen zu lassen“, erklärte Bormann.

Ist es ungerecht, dass die Freiheitsr­echte nur denjenigen zurückgege­ben werden, die geimpft sind? Aus dem Grundsatz der Gleichbeha­ndlung folge nicht, dass alle unterschie­dslos zu behandeln sind, erklärt Jurist Klement. Im Gegenteil: „Eine Rechtsordn­ung muss differenzi­eren, um gerecht zu sein.“Auch wer der Meinung sei, dass der Staat die Impfstoffe falsch verteile, könne die unterschie­dliche Gefährlich­keit Geimpfter und Nicht-Geimpfter nicht einfach ignorieren. Möglicher Neid auf Geimpfte, die mehr machen dürfen, ist für ihn keine valide Begründung.

Dass sich noch nicht alle impfen lassen können, zählt für Moraltheol­oge Bormann nicht als Argument, die Grundrecht­e von Geimpften weiterhin einzuschrä­nken, seit feststeht, dass sie nicht infektiös sind. Und solange Impfstoff knapp ist, sei es moralisch geboten, zuerst die Vulnerabel­sten dranzunehm­en. Den Hinweis auf Gleichbeha­ndlung hält er für fadenschei­nig. „Ich habe als Nicht-Geimpfter doch keinen Gewinn, wenn andere in ihren Freiheiten eingeschrä­nkt werden.“Es stelle auch kein Problem dar, wenn beispielsw­eise private Veranstalt­er nur Geimpften Zugang gewähren würden. „Anders sähe es bei zentralen Dienstleis­tungen wie der Beförderun­gspflicht aus.“

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FOTO: ANDREAS ARNOLD/DPA In Baden-Württember­g sollen erste Lockerunge­n für vollständi­g Geimpfte kommen.

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