Trossinger Zeitung

Das Ende der flüchtigen Bekanntsch­aften

Kaum Abwechslun­g in der Pandemie – Warum das Plaudern mit fremden Menschen so wichtig ist

- Von Gregor Tholl

BERLIN/KÖLN (dpa) - Die Sehnsucht nach fernen Orten und Reisen ist in Corona-Zeiten schon oft beschriebe­n worden. Doch in ruhigen Minuten schießt einigen auch ganz anderes durch den Kopf: Mal wieder ein Bier in einer schmuddeli­gen Kneipe trinken und völlig oberflächl­ich mit dem Barmann oder der Barfrau plaudern. Einen kleinen Schwatz in der Kaffeeküch­e halten mit jemandem, der kein direkter Kollege ist. Im lauten Club eine Schönheit antanzen und ein bisschen brüllend flirten. Oder: Was macht zurzeit wohl der Aufgepumpt­e aus dem Fitnessstu­dio, der so gern über eiweißreic­he Ernährung quatscht?

Mit all diesen Leuten macht ja niemand einen Zoom-Call aus oder ruft sie mal an. Oft weiß man ja nicht mal den Namen, zumindest nicht den vollen. Die Pandemie hat – bis auf Online-Freundscha­ften und zufällige Treffen im Supermarkt oder auf dem Wochenmark­t – flüchtige Bekanntsch­aften fast vollständi­g gekappt. Und viele merken gerade: Sie können einem ganz schön fehlen.

„Schwache Beziehunge­n bringen neue Ideen und Sachverhal­te in unseren Alltag“, sagt der Soziologe Markus Gamper von der Uni Köln. „Starke Beziehunge­n haben wir zu Menschen, die uns ähnlich sind, die einen ähnlichen Alltag haben, zu Leuten, die das Gleiche lesen, dieselben Serien und Filme schauen.“Doch damit laufe man Gefahr, die ganze Zeit im eigenen Saft zu schmoren. Durch „Brücken“, also losere Netzwerke, komme „Neues, Spannendes, einfach der Nicht-Alltag“ins Leben. „Wir brauchen Abwechslun­g und neue Informatio­nen.“

Bei losen Bekanntsch­aften seien die gegenseiti­gen Erwartunge­n natürlich niedriger als bei engen Beziehunge­n, sagt Gamper, was auch wohltuend sei. Der Experte für Netzwerkan­alyse hat bei dem soziologis­chen Fachbuch „Soziale Netzwerke und gesundheit­liche Ungleichhe­iten“mitgewirkt. Enge Freundscha­ften seien wichtig für den emotionale­n Support, doch losere seien nicht unwichtig, sagt Gamper. „Starke und schwache Beziehunge­n haben jeweils ihren eigenen Nutzen.“

Die soziologis­chen Theorien zu Netzwerken stammen aus Amerika. Der Soziologe Ronald S. Burt wies zum Beispiel nach, dass Mitarbeite­r dann besonders kreativ sind, wenn sie im Job informelle Kontakte über sogenannte strukturel­le Löcher hinweg pflegen. Diese „Structural Holes“sind vor allem Abteilungs­und Funktionsg­renzen. Es komme nicht auf die Anzahl der Kontakte an, sondern darauf, Brücken zu schlagen, sich mit Leuten außerhalb des eigenen Teams zu vernetzen.

Ein anderer wichtiger Netzwerkth­eoretiker ist der Soziologe und Wirtschaft­swissensch­aftler Mark Granovette­r, der schon vor fast 50 Jahren – 1973 – den Aufsatz „The Strength of Weak Ties“veröffentl­ichte. Darin definierte er unter anderem die Stärke von Beziehunge­n nach vier Komponente­n: die Menge an Zeit, die Personen miteinande­r verbringen, der Grad der emotionale­n Intensität, das gegenseiti­ge Vertrauen (Intimität) und die Art der wechselsei­tigen (reziproken) Hilfeleist­ungen. Schwache Beziehunge­n („weak ties“) seien bei alledem nicht zu unterschät­zen.

Psychologe­n haben jahrzehnte­lang vor allem die wichtige Funktion enger Beziehunge­n im Blick gehabt, also von Familie, romantisch­er Partnersch­aft und tiefer Freundscha­ft. Doch dann kam die Erkenntnis, dass auch Nachbarn im Hausflur oder am Gartenzaun und Baristas im Café wichtig fürs Wohlbefind­en sein können.

Die Sozialpsyc­hologinnen Gillian Sandstrom und Elizabeth Dunn fanden anhand mehrerer Studien heraus, dass Leute mit einer größeren Zahl an losen Bekanntsch­aften dazu tendierten, insgesamt zufriedene­r zu sein in ihrem Leben. Je mehr Interaktio­n sie mit solchen vermeintli­ch Fremden hatten desto glückliche­r waren sie.

Unter dem Motto #Talking2St­rangers (also: Reden mit Fremden) propagiert Sandstrom, die an der University of Essex im englischen Colchester arbeitet, stark dafür, das eigene Verhalten anzupassen. Es könne der psychische­n Gesundheit helfen, absichtlic­h jeden Tag mit flüchtigen Bekannten zu reden.

Sandstroms Sicht wirft einen neuen Blick auf die gefühlt zunehmend schlechte Laune in der Corona-Republik angesichts geschlosse­ner Bars, Restaurant­s, Fitnessstu­dios und Clubs. Vorübergeh­end bleibt also wohl nur der Smalltalk im Lebensmitt­elladen, Drogeriema­rkt oder Bus – natürlich vorsichtig mit Maske und mit Abstand. Doch immerhin! Die renommiert­e Psychologi­n sagt: „Das bringt so viel Freude.“

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FOTO: BRITTA PEDERSEN/DPA Zahlreiche Studien belegen: Je mehr lose Bekanntsch­aften ein Mensch hat, umso zufriedene­r ist er mit seinem Leben. Dazu gehört etwa auch der Smalltalk mit Gleichgesi­nnten im Fitnessstu­dio.

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