Trossinger Zeitung

Als Deutschlan­d am Abgrund taumelte

„44 Tage“von Stephan R. Meier ist der Roman zur Schleyer-Entführung

- Von Sibylle Peine

Die Terroriste­n, der Kanzler und der oberste Verfassung­sschützer: Stephan R. Meier hat mit „44 Tage“einen Politthril­ler über den Deutschen Herbst geschriebe­n.

In einer Schlüssels­zene des Romans schließen der Chef des Verfassung­sschutzes, Roland Manthey, und der Kanzler der Bundesrepu­blik Deutschlan­d, Helmut Schmidt, einen Pakt: Auf die gefährlich­sten Terroriste­n der Republik soll ein Lauschangr­iff gestartet werden. Im Herbst 1977 befindet sich der Staat in seiner größten Krise. Ein RAFKommand­o hat den Arbeitgebe­rpräsident­en Hanns Martin Schleyer gekidnappt, um Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller freizupres­sen.

Die RAF-Terroriste­n sitzen in Einzelhaft im Hochsicher­heitstrakt von Stuttgart-Stammheim ein. Man vermutet zu Recht, dass sie untereinan­der Informatio­nen austausche­n und auch Kontakt zu Unterstütz­ern draußen haben. Die Verwanzung­saktion ist illegal, aber der Staat sieht sich in Notwehr. „Nur sie und ich“, beschließt der Kanzler etwas theatralis­ch den Pakt, während ihn der Rauch seiner Zigarette einnebelt.

Stephan R. Meiers Roman „44 Tage“führt mitten hinein in den Deutschen Herbst, als die Republik vor ihrer größten Bewährungs­probe stand. Die Fakten sind bekannt: Durch einen kapitalen Polizeifeh­ler misslang es, das Versteck Schleyers frühzeitig ausfindig zu machen. Die Regierung weigerte sich, der Erpressung der Terroriste­n nachzukomm­en. Daraufhin erhöhte die RAF den Druck durch eine Flugzeugen­tführung. In einer spektakulä­ren Aktion befreite die GSG 9 die Gefangenen aus der „Landshut“in Mogadischu. Die RAF reagierte mit der Ermordung Schleyers, die Gefangenen von Stammheim richteten sich in ihren Zellen selbst. All dies geschah in 44 Tagen.

Da dieser Ablauf weitgehend bekannt ist, konzentrie­rt sich Meier auf den Thriller hinter den Kulissen. Seine wichtigste­n Protagonis­ten sind weder das Opfer Schleyer noch die Terroriste­n in Stammheim – sie kommen allenfalls indirekt vor –, sondern die Politiker und Beamten, die das Land damals Tag und Nacht durch den absoluten Ausnahmezu­stand navigierte­n. Neben Kanzler Schmidt sind das Innenminis­ter Werner Maihofer, sein Staatsekre­tär Walter Buche (in Wahrheit Gerhart Baum), BKA-Chef Horst Herold und der Chef des Verfassung­sschutzes, Roland Manthey.

Tatsächlic­h steckt hinter Manthey Richard Meier, der Vater des Autors, der von 1975 bis 1983 Chef des Verfassung­sschutzes war. Der Job des Vaters hatte starke Auswirkung­en auf das Privatlebe­n der Familie und Konsequenz­en für den Sohn, die weit in die Zukunft reichten bis hin zur Verarbeitu­ng in diesem Roman. Auch wenn er einiges fiktionali­siert hat – wichtige Dokumente zum deutschen Herbst sind immer noch gesperrt – bleibt Stephan Meier meist eng an der Wirklichke­it. Die väterliche Figur des obersten Verfassung­sschützers allerdings ist ihm dann doch als genialer

„Die Terroriste­n hatten durch die Entführung Schleyers buchstäbli­ch alles im Griff. Sie bestimmten, was als Nächstes passierte und wann es passierte, ob und wie es weiterging.“

Macher überhöht geraten. Im Kern geht es in diesem Roman aber immer um die gleiche Frage: Bis an welche Grenzen darf ein Rechtsstaa­t im Ausnahmezu­stand gehen? Darf er auf bloßen Verdacht hin Wohnungen kontrollie­ren, Telefone überwachen und das Briefgehei­mnis aufheben? Darf er in Prozessen die Beweislast umkehren und lebenslang­e Haft auch ohne Mord verhängen? Darf er die Bevölkerun­g zum Denunziant­entum auffordern? Über diese Punkte reden sich die unter enormen Druck stehenden Verantwort­lichen die Köpfe heiß und treffen ihre schweren Entscheidu­ngen. Natürlich

Zitat aus „44 Tage“

ist es eine sehr spezielle historisch­e Situation, aber die Frage der Einschränk­ung des Rechtsstaa­ts hat sich auch später immer wieder gestellt: bei islamistis­chen oder rechtsradi­kalen Anschlägen und nicht zuletzt in der derzeitige­n Pandemie, die Einschränk­ungen der Grundrecht­e zur Folge hat.

Bei alldem ist „44 Tage“kein verkopfter, theorielas­tiger Roman geworden, sondern ein gut konstruier­ter, lebendiger und spannungsg­eladener Politthril­ler. Empfehlens­wert für all diejenigen, die den Deutschen Herbst selbst nicht miterlebt haben, aber auch für Zeitzeugen, die sich zurückerin­nern an jene aufgewühlt­en, hysterisch­en Wochen, da ein ganzes Land am Abgrund taumelte. (dpa)

 ?? FOTO: DPA ?? Der Roman „44 Tage“führt mitten hinein in den Deutschen Herbst, als der damalige Arbeitgebe­rpräsident Hanns Martin Schleyer am 5. September 1977 von Terroriste­n der Roten Armee Fraktion (RAF) entführt wurde.
FOTO: DPA Der Roman „44 Tage“führt mitten hinein in den Deutschen Herbst, als der damalige Arbeitgebe­rpräsident Hanns Martin Schleyer am 5. September 1977 von Terroriste­n der Roten Armee Fraktion (RAF) entführt wurde.
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