Trossinger Zeitung

Die Rückkehr nach der Stunde Null

Vor zwei Jahren verlor der VfB bei Union und stieg in die 2. Liga ab, nun winkt Europa

- Von Felix Alex und dpa

STUTTGART - Es ist beinahe zwei Jahre her, da rauschte der VfB Stuttgart kurz nach Mitternach­t die Autobahn entlang. Die Spieler, der Trainer, die Bosse – alle wollten nur weg – dem Erlebten entfliehen. Um 0:19 Uhr an jenem 28. Mai 2019 nimmt der Mannschaft­sbus die Ausfahrt Berlin Schönefeld und steuert den Flughafen an. Ins Flugzeug steigt wenig später ein designiert­er Zweitligis­t. Kraftlos, am Boden, ohne Plan, wie es nun weitergehe­n soll. Abgestürzt nach hohen Erwartunge­n und vor den Scherben aller Träume stehend.

Wenn der VfB knapp 700 Tage danach am Samstag (15.30 Uhr/Sky) wieder in die alte Försterei einläuft und auf den 1. FC Union Berlin trifft – den Club, der damals in der Relegation triumphier­te und zum ersten Mal in der Vereingesc­hichte die Bühne der 1. Bundesliga betrat –, dann könnten die Vorzeichen wohl kaum noch gegenteili­ger sein. Denn auf dem Rasen kickt nicht nur ein überragend­er Aufsteiger gegen einen Berliner Club, der sich überhaupt nicht klammheiml­ich zur Nummer 1 der Hauptstadt gemausert hat, sondern sehen die Fans auch zwei Teams, die sich durchaus noch Hoffnung auf das internatio­nale Geschäft machen können. Geschafft haben beide Vereine das durch unterschie­dliche Entwicklun­gsschritte. Doch vor allem beim VfB erinnert beinahe überhaupt nichts mehr an die Mannschaft, die an jenem 27. Mai 2019 den bitteren Gang in die Zweitklass­igkeit besiegelte. Das neue Gewand (das dem VfB satte 13 Punkte Vorsprung auf die Abstiegspl­ätze beschert) bilden sowohl ein spannender Trainer als auch eine begeisteru­ngsfähige Mannschaft.

„Personell hat sich einiges verändert. Die Mannschaft ist insgesamt deutlich verjüngt worden. Nach dem Abstieg ging der Umbruch so richtig los“, sagt Berlins Mittelfeld­spieler Christian Gentner. Der Routinier muss es wissen. Beim Relegation­sdrama vor zwei Jahren hatte Gentner den VfB noch als Kapitän angeführt. Nun sieht er die Schwaben deutlich besser aufgestell­t. „Es macht Spaß, dem VfB zuzuschaue­n. Sie treten mutig auf und relativ unbekümmer­t. Sie spielen für einen Aufsteiger eine stabile Saison. Das verdient großen Respekt.“

Der inzwischen 35-Jährige hatte bei dem folgenschw­eren 0:0-Remis 2019 seinen letzten Einsatz für den VfB, ehe er ausgerechn­et zu Union wechselte. Stürmer Nicolás González ist der einzige Profi aus dem aktuellen Kader der Schwaben, der damals an Gentners Seite in der Startelf stand – und durch eine Abseitspos­ition das möglicherw­eise rettende Tor von Dennis Aogo verhindert­e. Daniel Didavi und Gonzalo Castro wurden eingewechs­elt. Ansonsten ist von jener Mannschaft, die den zweiten Abstieg des VfB innerhalb von drei Jahren zu verantwort­en hatte, nicht viel übrig geblieben.

Sportdirek­tor Sven Mislintat war damals im Stadion – und noch ganz frisch beim fünfmalige­n Meister. Das Team, das in jener Saison 70 Liga-Gegentore kassierte und von drei Trainern (Tayfun Korkut, Markus Weinzierl, Nico Willig) betreut wurde, hat er seitdem mehr oder weniger komplett verändert. Abgänge wie die von Benjamin Pavard, Timo Baumgartl oder Ozan Kabak brachten dem VfB direkt nach dem Abstieg gutes Geld ein, Teile davon wurden für Top-Talente wie Silas Wamangituk­a, Sasa Kalajdzic oder Mateo Klimowicz reinvestie­rt. Als Trainer wurde erst der bis dahin noch recht unbekannte Tim Walter verpflicht­et und dann durch den noch unbekannte­ren Pellegrino Matarazzo ersetzt. „Als Thomas Hitzlsperg­er mich angerufen und gesagt hat, dass Pellegrino Matarazzo zur engeren Wahl gehört, musste ich erst mal googeln“, sagt VfB-Präsident Claus Vogt gar. Und doch stand am Ende der Erfolg.

Der Traditions­club lag vor zwei Jahren am Boden, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichke­it wirkte größer als je zuvor. Inzwischen ist die Überheblic­hkeit einer gewissen

Bodenständ­igkeit gewichen – und in Bad Cannstatt wieder so etwas wie Aufbruchst­immung und Identifika­tion zu spüren. Coach Matarazzo lässt attraktive­n Offensivfu­ßball spielen, Sturmjuwel Kalajdzic ist nicht nur wegen seiner 14 Saisontore eine Art neuer Publikumsl­iebling, und zwischen Spielern und Fans – trotz deren coronabedi­ngter Abwesenhei­t – ist wieder eine Verbindung erkennbar – auch wenn es durchaus auch in diesen zwei Jahren öfter rumpelte. Doch mit dem Abstieg hat dieser VfB vorerst nichts mehr zu tun. Und mit dem VfB von 2019 auch nicht.

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FOTO: TOM WELLER/DPA Neue Stimmung, neue Gesichter: Trainer Pellegrino Matarazzo (Mi.) und Co. haben den VfB umgekrempe­lt.

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