Frankreichs Stimme der Unzufriedenen
Die Rechtspopulistin Marine Le Pen hat gute Chancen auf das Präsidentenamt
PARIS - Ein Jahr vor der Wahl liegt Marine Le Pen fast gleichauf mit Emmanuel Macron. Laut einer Studie profitiert sie vor allem vom Hass auf den Präsidenten.
Marine Le Pen sitzt im milden Licht einer Stehlampe und plaudert über ihr Leben. „Man wird besser, wenn man gelitten hat, wenn man gefallen ist“, sagt die 52-Jährige in der Videoaufzeichnung eines Interviews mit dem erzkonservativen Magazin „Valeurs actuelles“. Ein Seitenhieb auf Emmanuel Macron, dessen Leben immer glatt bergauf führte. Bis in den Elysée-Palast, den ihm Le Pen im nächsten Jahr streitig machen könnte. Ihre Strategie dabei ist klar: Die Chefin des rechtspopulistischen Rassemblement National /RN) will sich als Gegenteil des Staatschefs inszenieren. Als eine, die sich gegen alle Widrigkeiten durchsetzen musste. Die ihre drei Kinder alleine großzog und für die Politik vor allem darin besteht, sich zu kümmern. Der Gegenentwurf zum Technokraten Macron.
Für das nächste Jahr sehen Umfragen Le Pen bei 48 und den Präsidenten, der seine Kandidatur noch nicht offiziell machte, bei 52 Prozent. „Wir betrachten einen Sieg Marine Le Pens als nicht zu vernachlässigende Möglichkeit“, warnt die Stiftung Jean Jaurès. Grund dafür ist vor allem Macron selbst. Die Umfragen zeigen, dass der Präsident die Gunst der Französinnen und Franzosen verspielt hat. Der Hass auf Macron sei die „wahre Kraft“Le Pens, schreibt die Stiftung. „Sie versucht, als Sammlungsbecken der Unzufriedenheit mit Emmanuel Macron zu erscheinen, die stark ist“, bemerkt auch der Meinungsforscher Frédéric Dabi im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Der Staatschef muss für die Bilanz seiner Regierungsjahre bezahlen, die durch die Corona-Pandemie getrübt ist. 2017 trat der frühere Wirtschaftsminister dagegen als junger, unverbrauchter Kandidat gegen Le Pen an, die schon 15 Jahre in der Politik war. Beim Fernsehduell vor der Stichwahl führte der damals 39-Jährige seine Rivalin in Wirtschafts- und Europafragen regelrecht vor. Der Auftritt wurde für Le Pen zur Blamage, von der sie sich lange nicht erholte.
Doch die einstige Anwältin hat seither dazu gelernt. Sie weiß, dass sie mit ihren aggressiven Parolen vor allem die Wählerinnen und Wähler verschreckt, die sie im nächsten Jahr für einen Sieg braucht: Die Konservativen, die nach dem Ausscheiden ihres Kandidaten François Fillon in der ersten Runde 2017 heimatlos geworden sind. Le Pen umgarnt die Anhänger der Républicains (LR) nicht nur mit sanfteren Tönen. Sie geht auch inhaltlich Riesenschritte auf sie zu. Zum Beispiel beim Thema Staatsverschuldung,
das der konservativen Wählerschaft besonders am Herzen liegt. In einem Zeitungsbeitrag kündigte sie im Februar an, die in der Corona-Pandemie gemachten Schulden zurückzuzahlen. „Das ist ein grundlegender moralischer Aspekt“, schrieb sie.
Wer in ihr Wahlprogramm aus dem Jahr 2017 schaut, das immer noch gilt, sieht allerdings das Haushaltsdefizit weiter massiv wachsen: milliardenschweren Mehrausgaben, beispielsweise im Verteidigungsbereich, stehen nur minimale Einsparungen gegenüber. Wirtschaftsthemen sind immer noch ihre Schwachstelle. Für die kommenden Wochen kündigte Le Pen deshalb ein Wirtschaftsprogramm an, das Zweifel über ihre Kompetenzen vor allem bei den Konservativen ausräumen soll.
Denen ist Sparsamkeit ebenso wichtig wie Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und Freihandel. Bisher passt das nicht in Le Pens nationalistisches Programm, doch in ihrer Machtgier hat sie auch hier einen strategischen Schwenk vollzogen. So will sie am Schengenabkommen, aus dem sie eigentlich aussteigen wollte, doch weiter festhalten.
Beim Thema EU musste sich die Populistin ebenfalls programmatisch stark verbiegen. Sie kann es sich erlauben, denn 89 Prozent ihrer Stammwählerschaft wollen auch im nächsten Jahr wieder für sie stimmen. So verzichtete sie im Europawahlkampf 2019 auf den „Frexit“, den Austritt Frankreichs aus der EU. Statt dessen fordert sie ein Europa der Nationalstaaten, in dem sie die europäischen Verträge neu verhandeln und der EU-Kommission ihre Kompetenzen entziehen will. Wie sie das im Kreis der anderen EU-Staaten durchsetzen will, bleibt aber unklar. Auch am Euro will sie festhalten, nachdem sie 2017 zunächst ein Ende der Gemeinschaftswährung forderte und dann mit einem konfusen Projekt zweier paralleler Währungen aufwartete. „Ich bin überzeugt, dass die Kohärenz meines Projekts den Wählern von LR perfekt zusagen kann“, warb sie Anfang April.
Nachdem Macron gemäßigte Vertreter der Konservativen an seine Seite holte, hat seine Rivalin es nun vor allem auf den rechten Rand der Republikaner abgesehen. Ihre Ankündigung, die Einwanderung direkt nach ihrer Wahl zu stoppen, kommt bei einem Teil dieser Klientel ebenso gut an wie das geplante Verbot des Kopftuchs im öffentlichen Raum.
Nur die älteren Wählerinnen und Wähler erinnern sich noch an ihren rassistische Hetzparolen schwingenden Vater. Bei ihnen schneidet die Kandidatin, die die Partei in den vergangenen Jahren vom Schwefelgeruch des Rechtsextremismus zu befreien suchte, auch am schlechtesten ab. Erstaunlich stark ist sie bei den 25- bis 34-Jährigen, die die Verurteilung von Jean-Marie Le Pen wegen Antisemitismus und Leugnung des Holocaust nicht mehr miterlebten.
Die Strategie der „Normalisierung“, die Marine Le Pen seit der Übernahme des Parteivorsitzes 2011 fährt, ist in dieser Altersgruppe bereits aufgegangen. Unter den jungen Wählerinnen und Wählern sind laut einer Umfrage 46 Prozent der Meinung, dass der RN eine „ehrliche Partei“ist, die eine Vision für Frankreich haben kann. Geschickt machte Le Pen 2019 mit dem damals erst 23-jährigen Jordan Bardella ein junges Gesicht zum Spitzenkandidaten für die Europawahl. Der Studienabbrecher, der in Radio und Fernsehen regelmäßig rechtspopulistische Phrasen drischt, könnte im Sommer auch den Parteivorsitz übernehmen. Die Anwältin will die Präsidentschaft des RN ruhen lassen, um nicht nur für eine Partei, sondern für alle Franzosen zu kandidieren.
Die Bildung einer „republikanischen Front“, die in den vergangenen Jahren regelmäßig den Rechtspopulisten den Weg versperrte, muss die Kandidatin im nächsten Jahr kaum befürchten. Macron verhalf dieser Zusammenschluss fast aller anderen Parteien gegen Le Pen mit 66 Prozent ins Amt. Diesmal könnten die Wählerinnen und Wähler der inzwischen völlig degradierten Sozialisten und anderer Linksparteien, die 2017 noch für Macron stimmten, aus Enttäuschung über den Präsidenten einfach zu Hause bleiben. Marine Le Pen ist für viele eine normale Kandidatin geworden und genau deshalb könnte sie 2022 gewinnen.