Hoffen und beten
Nach den Vorfällen von Polizeigewalt gegen Afroamerikaner streiten die USA über Ursachen und mögliche Reformen
WASHINGTON - Die Polizei, dein Freund und Helfer? Auch in Amerika gibt es ihn, diesen Typus. Etwa in Chevy Chase, einem Stadtteil im Norden Washingtons. Dort lässt sich beobachten, wie nett Polizisten sein können. Genauer gesagt, wie sympathisch der leicht korpulente Officer ist, der meist auf einem Segway steht, wenn er auf dem promenadenbreiten Bürgersteig der Connecticut Avenue Patrouille fährt. Seine Aufgabe ist es, blau uniformiert Präsenz zu zeigen an einer Magistrale, an der sich Geschäft an Geschäft reiht. Im Sommer tut er das übrigens in kurzen Hosen, wobei niemand auf die Idee käme, sich darüber zu mokieren, denn die Washingtoner Sommer sind berüchtigt schwül und heiß. Er ist einfach da, der Officer. Freundlich, bisweilen zu Scherzen aufgelegt, immer für einen Plausch zu haben.
Nun ist Chevy Chase DC kein Viertel, in dem die Kriminalität grassiert. Hier sind die Mittelschichten zu Hause, Bildungsbürger, aufgeklärt und weltoffen. Intellektuelle, die noch in fortgeschrittenem Alter gern T-Shirts tragen, an denen sich ablesen lässt, an welchen Universitäten sie einst studierten: Michigan State, Ohio State, Princeton. In den Vorgärten Plakate mit der Parole „Black Lives Matter“. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass fast alle Bewohner des Stadtteils helle Haut haben. Auch in Chevy Chase DC, wo das Tempolimit auf Nebenstraßen bei 20 Meilen pro Stunde liegt, kennt man Verkehrskontrollen. Wer aus Europa zuzieht, braucht eine Weile, um sich an die Art zu gewöhnen, mit der die Polizei einen stoppt. Wenn hinter einem rote und blaue Leuchten aufblinken und eine ohrenbetäubende Sirene heult, heißt es, anzuhalten. Ohne darauf zu warten, dass einen der Streifenwagen überholt. Hände aufs Lenkrad, damit sie sichtbar sind. Idealerweise so, dass sie, wäre das Lenkrad eine Uhr und wären die Hände Zeiger, auf der Zehn und der Zwei stehen. Fragen möglichst knapp beantworten. „Yes, Sir.“„No, Sir.“Ungefähr so.
Nun ist das alles nicht vergleichbar mit Erfahrungen, die schwarze Amerikaner im eigenen Land machen. Egal, welcher sozialen Gruppe sie angehören. „Wenn du Afroamerikaner bist, gibt es für dich keine routinemäßige Verkehrskontrolle“, fasst es der Journalist Jonathan Capehart zusammen. Jede Kontrolle gerate zur Zitterpartie. Capehart, ein Mann mit leicht ergrautem Dreitagebart, schreibt Kolumnen für die „Washington Post“. In der abendlichen Nachrichtensendung des Fernsehkanals
PBS lässt er freitags im Dialog mit seinem New-York-Times-Kollegen David Brooks die Woche Revue passieren. Sein sozialer Status, erzählte er kürzlich, ändere nichts daran, dass er unter einer Art Generalverdacht stehe. „Sobald ich mein Apartment verlasse, begegnet man mir mit einem gewissen Maß an Argwohn, werde ich sogar als Bedrohung angesehen. Ganz einfach, weil ich schwarz bin. Weil ich schwarz und männlich bin.“Ähnlich skizzierte es Eric Holder, im Kabinett Barack Obamas Justizminister. Einmal, zu der Zeit war er Staatsanwalt, sprintete er abends durch Georgetown, ein nobles Viertel am Potomac-Fluss, um den Beginn eines Kinofilms nicht zu verpassen. Worauf ihm Polizisten befahlen, stehen zu bleiben, nach Holders Eindruck, weil sie in ihm einen fliehenden Ladendieb vermuteten. „Da war ich kein Kind mehr. Da war ich bereits angestellt im Justizministerium der Vereinigten Staaten.“
Ta-Nehisi Coates, einer der interessantesten afroamerikanischen Autoren der Gegenwart, hat vor Jahren ein Buch über die Diskriminierung geschrieben, verfasst in Form eines Briefes an seinen Sohn Samori, den er auf die raue Lebenswirklichkeit vorbereiten wollte. „Vergiss nie, dass wir in diesem Land länger versklavt waren, als wir in Freiheit lebten. Vergiss nie, dass schwarze Menschen 250 Jahre lang in Ketten hineingeboren wurden“, gab er Samori mit auf den Weg und schilderte Szenen, die ihn spüren ließen, auf welch dünnem Eis Menschen mit dunkler Haut sich noch immer bewegen. Vielleicht erinnere sich der Sohn noch an einen Kinobesuch in der Upper Westside, liberalstes New York. Als sie den Kinosaal verließen und auf einer Rolltreppe nach unten fuhren, habe Samori getrödelt, wie das ein fünfjähriges Kind manchmal tue. Eine weiße Frau habe ihn geschubst, worauf er, der Vater, der Frau ein paar Takte sagte. Schnell waren sie umringt von weißen Männern. Einer sprach von der Polizei, die er gleich rufen werde. „Ich hatte die Regeln vergessen. Man darf sich keinen Irrtum erlauben. Geh in der Reihe. Arbeite leise. Pack einen Extrableistift ein. Mach bloß nichts falsch.“
Warum die häufig überzogene polizeiliche Härte? Chuck Wexler, Direktor des Police Executive Research Forum, eines Thinktanks, der Polizisten beratend zur Seite steht, erklärt es zum Teil mit falschen Prioritäten in der Ausbildung. Während ein Rekrut 58 Stunden lang den Umgang mit Schusswaffen übe, seien für das Trainieren deeskalierender Taktiken gerade mal acht Stunden vorgesehen. Auszubildenden bringe man bei, dass sie aus jedem Duell als Sieger hervorgehen müssten. Dabei wäre es manchmal besser, innezuhalten, um überlegter entscheiden zu können. Allerdings, so Wexler, dürfe man nicht vergessen, dass die Verfassung privaten Waffenbesitz garantiere und ein Beamter nie wissen könne, ob er es mit einem Bewaffneten zu tun habe. „Schon wenn es so aussieht, als habe jemand eine Beule in der Jacke, werden Polizisten nervös.“Bei etlichen Routinekontrollen, die mit Schüssen endeten, habe es damit begonnen, dass eine im Grunde harmlose Situation als gefährlich interpretiert wurde.
Hinzu kommt das Erbe der siebziger und achtziger Jahre, als die Kriminalität in großen Städten bedrohlich anstieg. David Sklansky, Rechtsprofessor an der Universität Stanford, hat die Folgen in seinem Buch „A Pattern of Violence“unter die Lupe genommen. Die Angst vor dem
Verbrechen habe viele Bürger „raue Taktiken“der Polizei nicht nur tolerieren, sondern sie geradezu einfordern lassen. Nach dem Motto, dass die Ordnungshüter endlich die Samthandschuhe ablegen müssten.
In den USA gibt es rund 18 000 Polizeibehörden, von den State Troopers der Bundesstaaten über städtische Police Departments bis hin zu kleineren Sheriff-Büros auf dem Lande. Wer sich den Sheriffstern an eine Uniform heften will, muss in aller Regel vorher eine Wahl gewinnen. Kandidaten, die mit der Parole „Tough on Crime!“für sich werben, haben oft die besseren Karten als liberaler gesinnte Bewerber, zumindest war das in der jüngeren Vergangenheit so. Das Erbe der Achtziger. Die Macht des Lokalen, auch sie macht es so schwer, den Trend umzukehren. Die Regierung in Washington kann zu Reformen nur raten, sie kann die Vergabe von Bundesmitteln an Lerneffekte vor Ort knüpfen.
Anordnen kann sie den Wandel nicht. Dann wären da noch die Polizeigewerkschaften, die im Laufe der Zeit einen juristischen Schutzwall hochgezogen haben, der auch schwarze Schafe vor Strafverfolgung bewahrt. Die „qualified immunity“, weitreichende Immunität, steht wie eine kaum zu überwindende Barriere im Weg, wenn Opfer exzessiver Gewalt (beziehungsweise deren Angehörige) einzelne Beamte verklagen wollen. Dass sich Derek Chauvin nach dem Tod George Floyds vor einem Richter verantworten musste, ist die sprichwörtliche Ausnahme, die die Regel bestätigt.
An dem Punkt setzen die Demokraten im US-Kongress an: Die Abschaffung der „qualified immunity“gehört, neben einem Verbot von Würgegriffen, zu den zentralen Punkten ihres neuesten Reformvorschlags. Im Repräsentantenhaus hat der Entwurf im März eine Mehrheit bekommen. Ob er auch den Senat passiert, ob zumindest eine abgewandelte Version Gesetzeskraft erlangt, steht auf der Kippe.
Philonise Floyd, einer der Brüder George Floyds, hat nach dem Schuldspruch gegen Chauvin in einem Meinungsbeitrag die Frage gestellt, ob das Urteil eine neue Ära einläute, eine „Ära der Rechenschaftspflicht“für Police Departments.
Die Antwort hat er offengelassen. „Wir hoffen und beten“, schrieb Philonise Floyd.
„Schon wenn es so aussieht, als habe jemand eine Beule in der Jacke, werden Polizisten nervös.“
Chuck Wexler, Direktor des Police Executive Research Forum