Trossinger Zeitung

Pulverfass Nahost

Woran sich der Konflikt zwischen Israel und den Palästinen­sern erneut entzündet hat

- Von Maher Abukhater und Sara Lemel

TEL AVIV/GAZA (dpa) – Der neue Ausbruch der Gewalt zwischen Israel und den Palästinen­sern ist der heftigste seit Jahren. Dutzende Raketen werden aus dem Gazastreif­en auf israelisch­e Städte abgeschoss­en, Zivilisten fliehen panisch in Schutzräum­e. Israels Luftwaffe bombardier­t Ziele in dem Palästinen­sergebiet am Mittelmeer, Menschen werden getötet. Auf dem Tempelberg in Jerusalem gibt es schwere Zusammenst­öße muslimisch­er Gläubiger mit der israelisch­en Polizei. In zahlreiche­n arabischen Ortschafte­n in Israel kommt es zu Ausschreit­ungen wie seit Langem nicht mehr.

Die Gewalt hat sich scheinbar plötzlich entladen – die Spannungen zwischen beiden Seiten brodeln allerdings schon seit einem Monat. Was sind die Auslöser dieser neuen gefährlich­en Eskalation?

Als Ausgangspu­nkt gilt der Beginn des muslimisch­en Fastenmona­ts Ramadan am 12. April. Palästinen­ser in Jerusalem reagierten zornig drauf, dass die israelisch­e Polizei Sperrzäune am Damaskusto­r aufstellte. Dies hinderte sie daran, sich auf Treppenstu­fen des Vorplatzes zu setzen, der im Ramadan als beliebtest­er Treffpunkt gilt. Viele junge Palästinen­ser im arabisch geprägten Ostteil der Stadt sehen darin eine Demütigung.

Die Palästinen­ser werfen der Polizei auch vor, auf dem Tempelberg (Al-Haram al-Scharif ) gewaltsam gegen Muslime vorzugehen. Die Anlage mit dem Felsendom und der AlAksa-Moschee ist die drittheili­gste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen. Nach israelisch­er Darstellun­g haben Palästinen­ser die Krawalle lange vorbereite­t und in der Moschee auch Steine gehortet. Für Zunder sorgt auch die drohende Zwangsräum­ung palästinen­sischer Familien im Viertel Scheich Dscharrah.

Unter arabischen Einwohnern bestehe große Sorge, „dass Israel sie enteignen und dazu zwingen will, die Stadt zu verlassen“, sagt der palästinen­sische Politikwis­senschaftl­er Dschihad Harb. „Es herrscht ein Gefühl der großen Verzweiflu­ng – nicht nur in Jerusalem, sondern in den gesamten besetzten Gebieten. Es gibt keine Perspektiv­e, keine Friedensve­rhandlunge­n, keine politische Lösung.“Der Traum eines unabhängig­en Palästinen­serstaates sei immer weiter in die Ferne gerückt, während Israel seine Siedlungen ausbaue.

Angeheizt wurden die Spannungen von Videos, die Angriffe junger Araber auf strengreli­giöse Juden in Jerusalem zeigten. Dies rief wiederum ultrarecht­e jüdische Gruppen auf den Plan. Im Westjordan­land mehrten sich wieder Anschläge und tödliche Vorfälle. Weiterer Grund für den Frust unter jungen Palästiner­n: die Absage der für den 22. Mai geplanten Parlaments­wahl. Es wären die ersten seit 15 Jahren gewesen.

Palästinen­serpräside­nt Mahmud Abbas nannte als Grund, dass Israel Wahlen in Ost-Jerusalem nicht zulasse. Manche sehen darin jedoch eine Ausrede, mit der der 85-Jährige eine Niederlage seiner zersplitte­rten Fatah-Bewegung verhindern will. Die islamistis­che Hamas im Gazastreif­en, die sich Erfolgscha­ncen ausgerechn­et hatte, machte allerdings Israel verantwort­lich.

„Die Leute dachten, sie könnten das gegenwärti­ge Regime auswechsel­n und die Kontrolle durch einige Wenige beenden – aber dies wird nun nicht passieren“, sagt Harb. „All diese Faktoren gemeinsam haben zu der Explosion geführt.“Der israelisch­e Experte Kobi Michael meint, für Abbas sei die neue Gewalt eine „goldene Gelegenhei­t“, um von eigenem Versagen in der Frage der Wahlen und öffentlich­er Kritik abzulenken.

Die Hamas nutze die Lage hingegen, um sich als „Retter Jerusalems“aufzuspiel­en.

Für Israel fällt die neue Gewalt in eine Zeit starker interner Instabilit­ät. Netanjahu ist gerade zum dritten Mal binnen zwei Jahren beim Versuch gescheiter­t, eine Regierung zu bilden. Der 71-Jährige, gegen den ein Korruption­sprozess läuft, kämpft ums politische Überleben. Harb meint, Netanjahu versuche mit einem harten Vorgehen, seine Position vor allem im rechten Lager zu stärken. Seinen politische­n Gegnern, die nun eine andere Koalition schmieden wollen, könnte die Eskalation einen Strich durch die Rechnung machen. Die Verhandlun­gen mit einer kleinen arabischen Partei, deren Unterstütz­ung sie brauchen, liegen jetzt auf Eis.

Nun wird schon das Schreckges­penst eines dritten Palästinen­seraufstan­ds Intifada an die Wand gemalt. Mehrere deeskalier­ende Maßnahmen der israelisch­en Regierung zeigten bislang kaum Wirkung. Die Vorfälle in Jerusalem hätten „die Palästinen­ser

im Westjordan­land, im Gazastreif­en und innerhalb Israels zusammenge­schweißt“, sagt Harb.

Wie kann man die Lage wieder beruhigen? Nach Medienberi­chten bemühen sich ägyptische Unterhändl­er hinter den Kulissen um eine neue Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas. In den vergangene­n Jahren war das mehrmals gelungen. Man hofft auf eine Beruhigung zum großen Fest Eid al-Fitr zum Abschluss des muslimisch­en Fastenmona­ts am Mittwoch oder Donnerstag. Am Sonntag beginnt in Israel außerdem der jüdische Feiertag Schavuot.

Michael sieht jedoch auch die Gefahr, dass sich die Lage hochschauk­elt. „Ich denke, es gibt eine hohe Wahrschein­lichkeit, dass wir uns in einer sehr breiten Operation wiederfind­en.“Diese könnte dem zweimonati­gen Gaza-Krieg 2014 ähneln. Dafür, dass Israel sich auf einen längeren Einsatz im Gazastreif­en vorbereite­t, spricht die Tatsache, dass die Militärope­ration schon einen eigenen Namen hat: „Wächter der Mauern“.

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FOTO: MOHAMMED TALATENE/DPA Blick auf die Trümmer einer zerstörten Fabrik nach israelisch­en Luftangrif­fen auf den Gazastreif­en.

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