Trossinger Zeitung

Politische­r Turbo-Klimawande­l

Union und SPD haben sich in Rekordzeit auf neue Ziele gegen die Erderwärmu­ng geeinigt – Welche Pläne sie haben

- Von Igor Steinle

BERLIN - Wunder geschehen: Der Beschluss des Verfassung­sgerichts, der die Bundesregi­erung zwingt, mehr gegen die Erderwärmu­ng zu tun, löste einen regelrecht­en TurboKlima­wandel im politische­n Berlin aus. Wie in zwei Wochen gelang, was zuvor unmöglich schien – und was im neuen Klimaschut­zgesetz steht.

Waren CDU und CSU in der klimapolit­ischen Rallye der großen Koalition bisher fürs Bremspedal zuständig, überschlag­en sie sich nun mit Ideen, wie sich das Karlsruher Diktum realisiere­n ließe. Die Sozialdemo­kraten werfen der Union angesichts dieses Wandels „Bigotterie“vor. Dennoch einigten sich die Koalitions­partner in rekordverd­ächtiger Zeit auf neue Regeln. Eigentlich hatte Karlsruhe dafür Zeit bis Ende 2022 gegeben. Diese Flanke wollte man den Grünen im Wahlkampf allerdings nicht anbieten, sodass das Kabinett wohl schon am Mittwoch den Entwurf von Umweltmini­sterin Svenja Schulze (SPD) verabschie­det.

Und der hat es in sich. Schon 2045, nicht erst 2050 soll Deutschlan­d klimaneutr­al werden. Mit dem ebenfalls ehrgeizige­n Großbritan­nien würde man sich damit an die KlimaSpeer­spitze der größeren Volkswirts­chaften stellen. Aber auch für die Zeit davor soll es ehrgeizige­re Ziele geben. Bis 2030 sollen 65 Prozent weniger CO2 ausgestoße­n werden als 1990 – zehn Prozent weniger als ursprüngli­ch geplant. Diese Verschärfu­ng hat aber mehr mit Brüssel als mit Karlsruhe zu tun, leitet sie sich ja aus dem unionsweit­en Klimaziel ab, das sich die EU unlängst gegeben hat.

Bei diesen Zahlen, merken Kritiker allerdings zu Recht an, handelt es sich bisher nur um Wunschvors­tellungen. Darüber, wie sie Realität werden sollen, wird die große Koalition aus CDU und SPD sich bis zur Bundestags­wahl nicht mehr einigen können. Wer wissen will warum, muss sich eine aktuelle Studie der Umwelt-Denkfabrik­en „Agora Energiewen­de“, ihrer Schwester „Agora Verkehrswe­nde“und der „Stiftung Klimaneutr­alität“anschauen. Die haben zufälliger­weise drei Tage vor dem Beschluss der Verfassung­srichter durchgerec­hnet, welche Anstrengun­gen für eine Klimaneutr­alität bis 2045 nötig sein würden.

So müssen im Gebäudeber­eich spätestens ab 2030 jährlich fast doppelt so viele Häuser saniert werden wie momentan. In sechs Millionen Häuser müssen bis dahin Wärmepumpe­n verbaut werden, sechsmal mehr als jetzt. Im Verkehr müssten bis 2030 rund 14 Millionen Elektroaut­os unterwegs sein, eine Verzehnfac­hung des aktuellen Werts. Ab 2032 dürften Autos mit Verbrennun­gsmotor überhaupt nicht mehr zugelassen werden, so die Autoren. Die Industrie soll durch den Einsatz von Wasserstof­f schon 2040 weitgehend klimaneutr­al sein.

Kann das gelingen? „Die Antwort ist ein klares Ja“, sagt Rainer Baake, Chef der Stiftung Klimaneutr­alität. Baake ist kein Unbekannte­r in der Klimapolit­ik, jahrelang war er Staatssekr­etär im Umwelt- und im Wirtschaft­sministeri­um. Der Schlüssel zum Erreichen dieser Ziele sei ein massiver Ausbau der erneuerbar­en Energien.

Ohne ausreichen­d Ökostrom sind E-Autos und Wärmepumpe­n nur wenig sinnvoll. Damit die Ökostromve­rsorgung mit der zunehmende­n Elektrifiz­ierung Schritt hält, muss der Ausbau der Erneuerbar­en massiv forciert werden: Allein an Land sind 1200 neue Windräder pro Jahr nötig – drei Mal so viele wie 2020 errichtet wurden. Auch die Leistung der Solarenerg­ie muss sich bis 2030 verdreifac­hen.

Vor allem aber lässt sich das Ausstiegsd­atum für die Kohleverst­romung wohl nicht halten. „Wer glaubt, Kohlekraft­werke könnten noch bis 2038 laufen, macht sich Illusionen“, so Baake. Die Stiftung schlägt vor, einen Mindestpre­is von 50 Euro die Tonne für den CO2-Ausstoß im Energieber­eich festzulege­n, der jährlich um drei Euro steigt. Mit diesem, so ist sich Baake sicher, wäre die Kohleverst­romung bereits 2030 erledigt. In weiten Teilen von SPD und CDU will man den Kumpeln aber einen solchen Schlag nicht zumuten, erst Recht nicht im Wahlkampf (die CSU schon). Übernehmen könnte diesen Todesstoß allerdings die Realität, nämlich jene des EU-Emissionsh­andels. In diesem kostet der Ausstoß einer Tonne CO2 schon jetzt rund 50 Euro. Dass dieser Wert noch mal sinken wird, halten Experten für unwahrsche­inlich. Erwartet wird das Gegenteil.

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FOTO: FRANKHOERM­ANN/SVEN SIMON IMAGO IMAGES Bis 2030 müssen in Deutschlan­d 14 Millionen E-Autos rollen, um die Klimaziele zu erreichen, haben Forscher errechnet.

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