In Berlin ist genug zu tun
Als Nancy Faeser die politische Bühne in Berlin betrat, wurde bald bekannt, dass sie stark in Hessen verwurzelt ist. So richtig überrascht hat ihre Entscheidung, als SPD-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl im Herbst anzutreten, also niemanden. Aus ihrer Perspektive ist dieser Schritt ja durchaus nachvollziehbar. Wenn sie die Wahl gewinnt, bekommt sie ihren Traumjob: Ministerpräsidentin. Wenn nicht, bleibt sie – mit Rückendeckung von Bundeskanzler Olaf Scholz – Bundesinnenministerin und somit die oberste Chefin von insgesamt 85.000 Beschäftigten. Auch nicht schlecht.
Dass die Außenwirkung eine andere ist, weiß die Ministerin, sie ist schließlich eine kluge Frau. Deshalb verspricht sie, „mit voller Kraft“Bundesinnenministerin zu bleiben – trotz des anstrengenden Wahlkampfes, der in den nächsten acht Monaten dräut. Dass dies nicht funktionieren kann, monieren Unionspolitiker und auch Teile der Grünen zu Recht. Es ist schlicht realitätsfremd anzunehmen, dass die Zeit, die Faeser beim Redenhalten und Händeschütteln in Hessen vertut, nicht an anderer Stelle fehlen würde. In ihrem Ministeramt steht sie vor gewaltigen Aufgaben – Zuwanderung, Cybersicherheit, innere Sicherheit, um nur einige zu nennen. Selbst bei einem 48-Stunden-Tag hätte sie gut zu tun.
Befürworter und Kritiker ihrer Entscheidung zählen nun, um ihre jeweilige Argumentation zu untermauern, allerlei Beispiele auf, wer sich aus welcher Position heraus um ein Amt beworben hat: Bundeskanzler, die um ihre Wiederwahl kämpften, Länderregierungschefs, die Kanzler werden wollten, Bundesminister, siehe Norbert Röttgen, die sich zum Ministerpräsidenten berufen fühlten. Unterm Strich führen diese Vergleiche zu nichts, weil die Situation nicht vergleichbar ist.
Deutschland muss sich anstrengen, die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zu bewältigen. Länder und Kommunen ringen darum, mehr als eine Million Flüchtlinge unterzubringen. Sie brauchen einen verlässlichen Partner in Berlin. Das wird schwierig, wenn Faeser künftig nicht mehr nur mit dem Herzen, wie sie selbst sagt, sondern auch als Wahlkämpferin in Hessen ist.
c.kling@schwaebische.de