Ist der Sozialstaat aus dem Ruder gelaufen?
Wirtschaftsexperten warnen vor schwierigen Zeiten – Deutschland bei Anstieg der Sozialausgaben weltweit auf drittletztem Platz
- Über kaum etwas wird in Deutschland so erbittert gestritten wie über den Sozialstaat. Als Finanzminister Christian Lindner vor Kurzem forderte, ein dreijähriges Moratorium für Sozialleistungen einzuführen, sah sich der FDP-Chef prompt Vorwürfen des Populismus und der sozialen Kälte ausgesetzt. Seine Verteidiger wiederum argumentierten, dass der Sozialstaat aufgebläht sei und zu einem unkontrollierbaren Monstrum mutiert wäre. Lindner selbst ging es dabei nicht einmal um Kürzungen oder ein Einfrieren von Rente, Bürgergeld oder anderen Zahlungen, diese sollten mit der Inflation weiter ansteigen. Es ging nur um eine Sperre für neue Ideen, wie man noch mehr Gelder als Sozialausgaben ausschütten könnte. Selbst diese harmlose Forderung reichte, um einen emotionalen Streit vom Zaun zu brechen, der oft die gebotene Sachlichkeit vermissen lässt.
Wie sehen die nackten Zahlen aus? Sind die Sozialausgaben in der Bundesrepublik aus dem Ruder gelaufen? Der Ende Februar durch das Bundesfinanzministerium veröffentlichte Sollbericht gibt einen Einblick, wie die Ausgabenstruktur im Bundeshaushalt aussieht: Im Jahr 2024 soll der Bundeshaushalt bei 476,8 Milliarden Euro liegen. 45,8 Prozent davon, also 218,3 Milliarden Euro, werden für Soziales ausgegeben: Dazu gehören die Zuschüsse zur Rente, die mehr als die Hälfte des Sozialetats ausmachen, sowie die übrigen Sozialversicherungen, Elterngeld, Bürgergeld, Asylleistungen oder die Grundsicherung im Alter. Hinzurechnen muss man zudem die Ausgaben für Gesundheit, die in einem gesonderten Etat geführt werden. Dieser Etat, der auch Umwelt, Sport und Erholung einschließt, macht 1,2 Prozent der Ausgaben des Bundes aus.
Insgesamt kann man also sagen, dass knapp die Hälfte der
Ausgaben des Bundes auf die sozialen Sicherungssysteme fällt. Zum Vergleich: Im Jahr 2024 sollen für Bildung, Wissenschaft und Forschung 30,7 Milliarden Euro oder 6,4 Prozent des Bundeshaushalts ausgegeben werden, für Schuldzinsen 37,4 Milliarden Euro oder 7,9 Prozent, für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einschließlich Polizei 7,3 Milliarden Euro oder 1,5 Prozent und für Verteidigung 58,3 Milliarden Euro oder 12,2 Prozent des Bundeshaushalts. Das also sind die aktuellen Zahlen.
Ist all dies nun viel oder wenig? Um das herauszufinden, kann man die Zahlen ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung setzen und dann mit der Vergangenheit oder mit anderen Ländern vergleichen. Gemacht hat dies jüngst das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), das zur vom Deutschen Gewerkschaftsbund betriebenen HansBöckler-Stiftung gehört. Die Basis für den Vergleich bilden Daten der Industriestaatenorganisation
OECD aus den Jahren 2002 bis 2022. Das Ergebnis: Die Befunde seien in allen Bereichen unauffällig. „Wer von einem ungebremst wachsenden Sozialstaat spricht, oder davon, dass der Staat generell immer weiter aufgebläht werde, verbreitet eine Mär, die nicht durch Fakten gedeckt ist“, sagte der wissenschaftliche Direktor des IMK, Sebastian Dullien.
Erstens sei das Wachstum der Sozialausgaben in Deutschland deutlich geringer als in anderen Ländern, heißt es in der IMK-Studie. Während in der Bundesrepublik die Kosten der sozialen Sicherungssysteme zwischen 2002 und 2022 preisbereinigt um 26 Prozent stiegen, legten sie in Neuseeland (136 Prozent), Polen (126), den USA (83), der Schweiz (64) oder Schweden (47) deutlich stärker zu. Von 27 verglichenen OECD-Ländern landete Deutschland laut IMK auf dem drittletzten Platz. Zweitens sei auch der Anteil der Sozialleistungen an der Wirtschaftsleistung unauffällig. Mit einer sogenannten Sozialleistungsquote
von 26,7 Prozent landet Deutschland auf dem siebten von 18 Plätzen. Ganz vorne rangieren Frankreich (31,6 Prozent), Italien (30,1) und Österreich (29,4), am Ende die USA (18,3), die Niederlande (17,6) und die Schweiz (17,0). Schließt man die in den letzten drei Ländern verpflichtende private Krankenversicherung mit ein, dann nähern sich die Sozialleistungsquoten in den USA, den Niederlanden und der Schweiz der deutschen an.
Und drittens, so das IMK weiter, sei auch bei der sogenannten Staatsquote, also der Gesamtheit der staatlichen Ausgaben einschließlich der Sozialausgaben in Relation zum BIP, nichts Außergewöhnliches zu entdecken. In der Bundesrepublik lag die Staatsquote zuletzt bei 48,2 Prozent, im Durchschnitt der EU-Länder bei 48,9 Prozent. Seit Anfang der 1990er-Jahre hat sich diesbezüglich nicht viel geändert: Die deutsche Staatsquote lag relativ stabil im mittleren bis hohen 40-Prozent-Bereich, der EU-Durchschnitt
meist leicht darüber.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass Alarmismus bezüglich des Sozialstaats unangemessen scheint. Allerdings sind die Zahlen des IMK mit Vorsicht zu genießen. Das liegt unter anderem daran, dass der Startpunkt des gewählten Beobachtungszeitraums eine wirtschaftliche Extremsituation in Deutschland darstellte. Im Jahr 2002 war die Bundesrepublik „der kranke Mann Europas“. Die Wirtschaft war beängstigend schwach und die Arbeitslosenquote deutlich zweistellig. Im Zuge der Umsetzung der Agenda 2010 legte die Hartz-Kommission Mitte des Jahres 2002 einen Vorschlagskatalog vor. In den Folgejahren wurden jeweils zum Jahreswechsel die vier Phasen der Hartz-Reformen umgesetzt, die in Deutschland für eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes und für steigendes Wachstum sorgten. Zwischen 2002 und 2022 halbierte sich die Arbeitslosigkeit nahezu, während die Wirtschaftsleistung im selben Zeitraum um über 76 Prozent anstieg.
Dies bedeutet auch: Allein durch die Reduzierung der Zahl der Arbeitslosen hätten die Sozialausgaben relativ zur Wirtschaftsleistung bei einer gleichbleibenden Sozialgesetzgebung in diesem Zeitraum deutlich fallen müssen. Das taten sie aber nicht, im Gegenteil. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen stiegen aufgrund der Alterung der Gesellschaft die Ausgaben für Rente, Gesundheit und Pf lege. Und zum anderen wurden neue Sozialausgaben wie die Rente ab 63 oder die Mütterrente installiert. Dadurch ist die Bundesrepublik rechtliche Verpf lichtungen eingegangen, die sich in die Zukunft fortschreiben lassen, unabhängig davon, ob sich die Wirtschaft weiter so gut entwickelt wie in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrtausends.
Deshalb kann die IMK-Studie zwar zur Versachlichung der Debatte beitragen, keinesfalls aber als Freibrief für die Politik verstanden werden: Noch ist der Sozialstaat kein unkontrollierbares Monstrum, trotzdem sind Sozialreformen dringend notwendig, wenn sich Deutschland solide aufstellen will. Entscheidend ist nämlich nicht der Blick in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Der Bundesrepublik stehen harte Jahre bevor: Die Wirtschaft schwächelt, die Infrastruktur ist marode, Unternehmen wandern ab, die Friedensdividende fällt weg, die grüne Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft wird extrem kostspielig und mit dem Renteneintritt der Babyboomer in der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre fehlen nicht nur Arbeitskräfte, auch die Sozialausgaben steigen dramatisch an. All dies bedeutet, dass Deutschland ein ungemütlicher Ort werden könnte, insbesondere dann, wenn der Sozialstaat irgendwann tatsächlich, und womöglich bald, die Grenzen seiner Tragbarkeit austestet.