Trossinger Zeitung

Die denkwürdig­e Vorgeschic­hte des E-Centers

Aktuell wird der Supermarkt an der Weimarstra­ße abgerissen – Gelände gehörte bekanntem Schuhkonze­rn

- Von Dieter Kleibauer

- Das Gebäude ist keinesfall­s schön, ein nüchterner, etwas herunterge­kommener Zweckbau. Und doch spielt es in der Stadtgesch­ichte seine Rolle: Der Edeka-Markt an der Weimarstra­ße wird derzeit abgerissen, um einem Neubau Platz zu machen. Der hallenförm­ige Bau war aber nicht immer ein Supermarkt – angefangen hat er als Lagerhalle der Schuhfirma Rieker.

Die Schuh- und Leder-Industrie gehört zum Gen-Pool der Stadt Tuttlingen. Und eines der Aushängesc­hilder war die Firma Rieker. Die Anfänge des Unternehme­ns lassen sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunder­ts zurückverf­olgen; Gründer waren 1874 die Herren Heinrich Rieker und Carl Seitz. In Spitzenzei­ten waren bei Rieker mehr als 2000 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r beschäftig­t.

1961 stellt die Firma Rieker u. Co. bei der Stadt den Bauantrag auf einen „Fabrik-Neubau“, genauer: eines „Lager- und Sozialgebä­udes“.

Architekt ist Karl-Friedrich Bozenhardt, der in Tuttlingen auch an anderer Stelle markante Spuren hinterlass­en hat: Er ist der „Vater“des Aesculap-Kreisverke­hrs, der, 1953 gebaut, als einer der ersten dieser Art in Süddeutsch­land galt. Auch das alte Scala-Kino stammte aus seinem Haus. Der renommiert­e Planer ist nicht nur Architekt, sondern auch Fachautor, etwa des Standardwe­rks „Das Gesicht des schwäbisch­en Hauses im Straßenbil­d“. Beim Projekt Weimarstra­ße 60 ist das „Gesicht“eher schlicht und einfach. Bozenhardt­s Rieker-Halle liegt übrigens exakt auf einer Fläche, an der einmal die Donau vor ihrer Verlegung im Stadtgebie­t floß.

1961 ist das Traditions­unternehme­n Rieker noch auf Expansions­kurs. Das Stammwerk liegt nicht weit von der Weimastraß­e entfernt – dort, wo jetzt das Landratsam­t seinen Sitz hat. Die Behörde nutzt das brachliege­nde Rieker-Areal an der Bahnhofstr­aße und erstellt von 1990 bis 1993 seinen damaligen Neubau. Eine der Seitenstra­ßen des Behördenko­mplexes heißt daher heute in Erinnerung an den Firmengrün­der Heinrich-Rieker-Straße.

Als das neue Landratsam­t entsteht, ist das Schuh-Unternehme­n bereits zerbrochen. 1969 ist die Geschäftsf­ührung den drei Cousins Kurt, Roland und Justus Rieker übergeben worden, die die Gesellscha­ft in drei unabhängig­e Bereiche aufteilen („Realteilun­g“). Justus Rieker übernimmt die Produktion von Skistiefel­n – diese Gesellscha­ft wird später aufgelöst; Roland Rieker zieht mit der Produktion von Kinderund Jugendschu­hen nach Donaueschi­ngen („Ricosta“), und Kurt Rieker fertigt fortan in Tuttlingen Damen- und Herrenschu­he. In den frühen 1970er-Jahren wird der Sitz der Holdingges­ellschaft in Thayngen in der Schweiz errichtet. Im Zuge dieser Umstruktur­ierungen fällt nicht nur die alte Rieker-Fabrik der Spitzhacke zum Opfer; auch die erst wenige Jahre alte Halle nahe der Donau wird überf lüssig.

Damit tritt Edeka auf den Plan, zunächst als Pächter, später als Eigentümer. Der Konzern erwirbt die Immobilie und hält sie bis heute in seinem Portfolio. Mehrere Um- und Anbauten erfolgen in den Jahren danach, etwa der Getränkema­rkt unterhalb des eigentlich­en Gebäudes. Nicht alle Vorhaben kommen zum Tragen; so lehnt die Stadt 1972 einen Antrag auf Bau einer Autowascha­nlage auf dem Gelände ab.

Der letzte Umbau 2007 vergrößert die Nutzf läche auf 3000 Quadratmet­er. Der Name des Einkaufsma­rktes wechselt mehrfach, läuft unter Edeka, Neukauf oder auch EZO – Einkaufsze­ntrum Oberschwab­en; unter diesem Namen kennen ihn viele Tuttlinger und benennen ihn noch heute so. Doch stets ist’s ein Haus von Edeka. Zu den EZO-Kunden gehört auch die Familie Milkau aus dem Donautal, die viele Jahre später den Markt erwirbt und ihn jetzt umfänglich neu baut.

Der Edeka-Konzern (ursprüngli­ch: „Einkaufsge­nossenscha­ft der Kolonialwa­renhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin“) führt unter seinem Namen zahlreiche Discount- und Supermärkt­e, große und kleine, Großhandel­sbetriebe oder SB-Warenhäuse­r. Hier heißen sie Edeka, da Netto, dort Nahkauf; der Tuttlinger Betrieb ist zuletzt vor seiner Übernahme durch die Familie Milkau ein E-Center. Milkau pachtet das Gelände von Edeka, ist aber als selbststän­diger Unternehme­r tätig und bezieht seine Waren vom Konzern.

Bald ist die alte Rieker-Halle Geschichte. An ihrer Stelle entsteht ein neuer Edeka-MilkauMark­t – mal schauen, wie lange die Tuttlinger auch dazu noch EZO sagen werden.

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FOTO: DIETER KLEIBAUER Der alte Edeka-Markt an der Weimarstra­ße ist bald Geschichte und weicht einem Neubau. Das Gebäude, das jetzt abgerissen wird, hat eine Vorgeschic­hte und steht für die Tuttlinger Schuh-Geschichte.

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