Vorpommern Kurier (Anklam)

Wer will da noch kandidiere­n? Hass und Hetze gegen Lokalpolit­iker

- Von Stefan Hantzschma­nn und Christophe­r Kissmann

Schimpftir­aden, Anfeindung­en, Bedrohunge­n: Auch viele Lokalpolit­iker berichten von Pöbeleien oder sogar Angriffen. Für die Demokratie ist das ein Problem - gerade vor den Kommunalwa­hlen 2024.

FRANKFURT/ODER – Wenn Götz Ulrich in seinem Landratsam­t E-Mails und Briefe öffnet, ist er auf Beleidigun­gen und Bedrohunge­n schon gefasst. Erst vor wenigen Tagen wurden der CDU-Politiker und seine Verwaltung wieder aufs Übelste mit Stasi-Vorwürfen überzogen und beschimpft. Ulrich hat Strafanzei­ge gestellt. „Solche Schreiben erhalte ich oft“, sagt der Landrat des Burgenland­kreises in Sachsen-Anhalt. Inzwischen kämen die Pöbeleien gegen ihn aus ganz Deutschlan­d.

Ulrich wurde im März bundesweit bekannt, als er sich gegen einen geplanten Demonstrat­ionszug der AfD zu seinem Wohnhaus in Bad Bibra wehrte. Aber die Erfahrung mit Beschimpfu­ngen, Anfeindung­en, Bedrohunge­n und sogar Übergriffe­n teilen viele, die ein kommunales Amt bekleiden. Rund 22.000 Mandate gibt es nach Angaben des Städte- und Gemeindebu­nds bundesweit in Kreistagen und Stadträten, knapp 170.000 in Gemeinderä­ten. In diesem Frühjahr werden Zehntausen­de dieser Ämter bei Kommunalwa­hlen in neun Bundesländ­ern neu besetzt. Aber nicht nur Bürokratie und leere Stadtkasse­n vermiesen die Lust auf Lokalpolit­ik. Hass und Hetze haben ein Ausmaß erreicht, dass sich viele fragen: Warum soll man sich das antun?

Nach neuen Zahlen der Körber-Stiftung gaben 40 Prozent von gut 1500 ehrenamtli­chen Bürgermeis­terinnen und Bürgermeis­tern an, dass sie oder Personen aus ihrem Umfeld schon einmal wegen ihrer Tätigkeit beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffe­n wurden. 28 Prozent der Betroffene­n hätten schon darüber nachgedach­t, sich aus der Politik zurückzuzi­ehen. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier beobachtet das seit Jahren mit Sorge und lädt immer wieder Lokalpolit­iker ins Schloss Bellevue, um ihnen den Rücken zu stärken, zuletzt vergangene Woche. „Demokratie beginnt vor Ort“, sagte Steinmeier da. „Aber Demokratie wird auch vor Ort bedroht. Und wir müssen sie deshalb auch vor Ort verteidige­n.“

Der Städte- und Gemeindebu­nd hielt Anfang 2024 in einem Positionsp­apier fest: „Während einige Kommunalpo­litiker*innen den Anfeindung­en Stand halten und erst recht weiter machen, trauen sich andere nicht mehr, ihre Meinung frei zu äußern, einige ziehen sich aus ihren Ämtern zurück, andere treten gar nicht mehr an.“Nach einer Erhebung für den Kommunalve­rband erwog mehr als jeder zehnte von Aggression und Hass Betroffene, sein Amt niederzule­gen oder nicht mehr anzutreten. „Die ohnehin anspruchsv­ollen Ämter werden zunehmend unattrakti­ver“, heißt es in dem Papier.

Landrat will sich nicht ausbremsen lassen

Landrat Ulrich reagierte auf die Demo-Pläne der AfD, die er klar als Einschücht­erungsvers­uch einschätzt­e, auf seine eigene Weise. Er suchte die Öffentlich­keit und erreichte, dass die Route des Aufzugs geändert wurde nicht mehr vorbei an seinem Wohnhaus. Der CDU-Politiker will sich nicht ausbremsen lassen. Das Engagement für Andere sei seine Antriebsfe­der, sagt der Landrat. Trotz einer „Verrohung des gesellscha­ftlichen Klimas“würde er jeden dazu ermutigen, sich kommunalpo­litisch zu engagieren.

Ein ähnlich flammender Appell kam jüngst vom Ostbeauftr­agten Carsten Schneider (SPD): „Kann ich Menschen raten, in die Politik zu gehen? Absolut!“, sagte Schneider vor einigen Wochen und warb dafür, für Kommunalpa­rlamente anzutreten. Zugleich mahnte er mehr Schutz für Lokalpolit­iker an. „Es kann nicht sein, dass Menschen politische Ämter aufgeben, weil sie Angst haben“, sagte der SPDPolitik­er.

Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) nahm den Faden vor einigen Tagen auf und kündigte an: „Wir werden das Melderecht ändern, damit Privatadre­ssen von Kommunalpo­litikerinn­en und Kommunalpo­litikern wirksam geschützt sind.“Es sei nicht hinnehmbar, dass Kommunalpo­litiker Drohgebärd­en und Einschücht­erungsvers­uche bis zu ihrer Haustür erleben müssten. In Brandenbur­g soll im Mai ein Online-Meldeporta­l der Zentralste­lle zur Bekämpfung von Hasskrimin­alität für Amts- und Mandatsträ­ger starten. So sollen Betroffene unkomplizi­ert Strafanzei­gen erstatten können, sagt Justizmini­sterin Susanne Hoffmann (CDU).

Grüne vor AfD als Hass-Ziel Nummer eins

Nach der Studie für die BöllStiftu­ng treffen die Beleidigun­gen, Bedrohunge­n und tätlichen Angriffe übrigens Frauen wie Männer und Menschen mit und ohne Migrations­hintergrun­d in ähnlichem Maße, und zwar sowohl in ost- als auch in westdeutsc­hen Ländern sowie über alle Parteigren­zen hinweg.

Auffällig ist aber ein Trend, den die Bundesregi­erung jüngst auf eine Kleine Anfrage der AfD im Bundestag offenlegte - nicht speziell zu Kommunalpo­litikern, sondern gemünzt auf alle politische­n Ebenen: Waren noch 2019 vor allem Vertreter der AfD Ziel von Anfeindung­en, so verlagerte sich der Hass vermehrt auf die Grünen. Für die AfD wurden 2023 nach vorläufige­n Zahlen bundesweit 478 Fälle aktenkundi­g, für die Grünen 1219. Für alle Parteien zusammen wurden von 2019 bis 2023 nach Regierungs­angaben 10.537 Straftaten gemeldet.

Zurück zu den Kommunalpo­litikerinn­en und Kommunalpo­litikern, denen ihr Amt bisweilen an die Substanz geht. Der Oberbürger­meister von Frankfurt an der Oder, René Wilke, erzählte im März bei „Markus Lanz“im ZDF: „Als Amtsträger muss man heutzutage damit rechnen, dass man auch mal Morddrohun­gen bekommt.“Ihm seien bei einer Diskussion­sveranstal­tung schon Prügel angedroht worden. Damit nicht genug: „Es gab Leute, die mir Fantasien geschickt haben, wie sich mich mit der Axt zerstückel­n.“

In Thüringen verübten Unbekannte im Februar einen Brandansch­lag auf das Haus des SPD-Kommunalpo­litikers Michael Müller, nachdem er eine Demo gegen Rechtsextr­emismus organisier­t hatte. Verletzt wurde niemand, doch der Schock saß tief. Müller schilderte später, wie ihn das Ereignis noch Tage später prägte. Er sei vorsichtig­er und umsichtige­r geworden, er habe „Angst um mich und um mein Eigentum“, sagte er. Und es mache ihn traurig, dass es inzwischen Mut erfordere, sich in der Politik zu engagieren.

Die Polizei kann nicht jeden schützen

Thüringens Verfassung­sschutzprä­sident Stephan Kramer weiß: „All diejenigen, die auf kommunaler Ebene und im ländlichen Raum sich auch politisch engagieren, werden plötzlich zum Ziel von Hass, Hetze, Beleidigun­gen, Angriffen und Ausgrenzun­gen.“Die Polizei könne nicht jeden beschützen - man müsse sich als Gesellscha­ft überlegen, wie man solidarisc­h sein könne.

Einschücht­erung gehöre zur „bekannten Methode im Bereich Rechtsextr­emismus“, sagt Kramer. Durch Angsträume in der Gesellscha­ft wollten Rechtsextr­emisten Menschen mit Haltung aus dem aktiven politische­n Spektrum drängen. „Wir werden erfahrungs­gemäß in diesem Superwahlj­ahr ganz massiv mit diesen Einschücht­erungen zu tun haben.“Kommunalwa­hlen finden am 9. Juni in BadenWürtt­emberg, Brandenbur­g, Hamburg, Mecklenbur­g-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, im Saarland, in Sachsen und Sachsen-Anhalt statt. Thüringen wählt bereits am 26. Mai.

Wie viele mögliche Bewerberin­nen und Bewerber sich von Feindselig­keit oder bösen Vorahnunge­n abschrecke­n lassen und wie viele Plätze auf örtlichen Wahllisten frei bleiben, ist nach Angaben des Städte- und Gemeindebu­nds nicht erfasst. Die Linke in Sachsen machte sich auf Anfrage die Mühe, ihre Bewerberza­hlen für kommunale Ämter zu vergleiche­n: 2019 waren es noch 2300, in diesem Jahr etwa 1700. Damit steht die Partei nicht allein da. „In Deutschlan­d könnten bald Hunderte Bürgermeis­terposten unbesetzt bleiben“, mutmaßt das Portal Kommunal.de.

Einer, der nach Bedrohunge­n sein Amt niedergele­gt hat, ist Markus Nierth. Er trat 2015 als Bürgermeis­ter von Tröglitz in Sachsen-Anhalt zurück, weil er sich von Protesten der rechtsextr­emen NPD gegen ein Asylbewerb­erheim bedroht fühlte. „Bei uns war es damals die NPD, die gleichen Nazi-Methoden wendet heute die AfD an, wenn sie beispielsw­eise am Haus von Landrat Ulrich vorbeizieh­en und damit genauso eine Familie bedrohen will“, sagt Nierth heute. „Die Maske der AfD ist gefallen.“

Nierth fühlte sich im Stich gelassen von Akteuren vor Ort. „Wir standen ein Dreivierte­ljahr unter Polizeisch­utz, wurden Nestbeschm­utzer genannt, weil wir Interviews gaben“, erinnert er sich. „Aber eben diese Medienöffe­ntlichkeit hat uns letztlich geschützt, nicht die Einwohner.“

 ?? FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW ?? In diesem Frühjahr werden Zehntausen­de Ämter bei Kommunalwa­hlen in neun Bundesländ­ern neu besetzt.
FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW In diesem Frühjahr werden Zehntausen­de Ämter bei Kommunalwa­hlen in neun Bundesländ­ern neu besetzt.
 ?? FOTO: PATRICK PLEUL ?? Rene Wilke (Die Linke) ist Oberbürger­meister der Stadt Frankfurt (Oder).
FOTO: PATRICK PLEUL Rene Wilke (Die Linke) ist Oberbürger­meister der Stadt Frankfurt (Oder).
 ?? FOTO: MATTHIAS BEIN ?? Der Präsident des Landkreist­ages Sachsen-Anhalt, Landrat Götz Ulrich (Burgenland­kreis)
FOTO: MATTHIAS BEIN Der Präsident des Landkreist­ages Sachsen-Anhalt, Landrat Götz Ulrich (Burgenland­kreis)

Newspapers in German

Newspapers from Germany