Wertinger Zeitung

Mit einem künstliche­n Bein in ein neues Leben

Nach einem schweren Motorradun­fall wurde Lydia Müller ein Bein amputiert. Die 47-jährige Wertingeri­n erzählt von Träumen und Erkenntnis­sen. Und davon, wie sie selbst und Freunde mit der neuen Situation umgehen

- VON BIRGIT ALEXANDRA HASSAN

Wertingen Motorradfa­hren gehört zu den großen Träumen von Lydia Müller. Mit 20 Jahren macht die Wertingeri­n den Führersche­in und kauft sich erstmals ein eigenes Motorrad. Als sie von zuhause auszieht und sich ein Auto zulegt, muss sie ihr Motorrad erst mal wieder aufgeben: „Alles drei ging als Schneideri­n finanziell nicht“, erzählt die 47-Jährige rückblicke­nd. Und so setzt sich die junge Frau in den folgenden Jahren immer wieder als Beifahreri­n auf die Motorräder von Freunden und Kumpels. Angst? Das Wort empfindet sie als zu groß. „Respekt“nennt sie das Gefühl, das ihr beim Losfahren immer wieder begegnet. Ganz selbstvers­tändlich geht sie davon aus, dass bei Menschen ab einem gewissen Alter „das Hirn mitfährt“. Doch das war nicht immer so. Es gab Situatione­n, in denen sie dachte: „Ups, das war knapp.“Wenn sie beispielsw­eise plötzlich mit 200 Stundenkil­ometern über eine Landstraße rasten.

So wächst in ihr erneut der Wunsch nach einem eigenen Motorrad. Den verwirklic­ht sie sich – noch bevor irgendetwa­s passiert. Raser sollten ihrer Meinung nach ihre Adrenalin-Kicks auf der Rennstreck­e ausleben statt auf öffentlich­en Straßen. „Man verliert so viel beim Rasen.“Statt den Fokus auf den schwarzen Strick des Tachos zu richten, nimmt sie beim Fahren lieber die Landschaft wahr. Und so schätzt sie sich glücklich, 2001 endlich wieder mit eigenem Motorrad und eigener Geschwindi­gkeit unterwegs zu sein.

Mit einer Freundin plant sie einen gemeinsame­n Motorradur­laub in Frankreich. Um nach zehn Jahren wieder Fahrpraxis zu bekommen, will sie den Weg zur Arbeit – mittlerwei­le arbeitet sie bei Portofino in Gundelfing­en – in den folgenden Monaten per Motorrad zurücklege­n. Und dann passiert, gleich am ersten Tag etwas, was ihr Leben grundlegen­d verändern wird.

Morgens um 7.10 Uhr, rund einen Kilometer nach Binswangen in Richtung Eppisburg – so jedenfalls habe es in der Zeitung gestanden – kam ihr ein Lkw entgegen. Dahinter zieht plötzlich ein Autofahrer raus, will den Lkw überholen. Die 31-jährige Motorradfa­hrerin hat null Chance zu reagieren. Sie sieht das Auto auf sich zukommen, hört in dem Moment nur noch einen Knall. Als Letztes erinnert sie sich, wie sie einen Helfer bittet, bei ihr zu bleiben. Sechs Tage später wacht Lydia Müller im Klinikum Augsburg auf, ein Tubus im Hals, der Körper ans Bett fixiert. „Etwas ist schief gelaufen“, merkt sie. Irgendwann kommt eine Schwester und klärt sie auf, dass sie später noch Besuch bekommen werde. „Woher weiß die das?“, wundert sie sich.

„Logisch wusste die Schwester, dass meine Familie kommen wird“, weiß die Wertingeri­n heute. „Die kam ja schon seit sechs Tagen täglich.“Die Ärzte hatten die schwer verletzte Frau in ein künstliche­s Koma versetzt. Häppchenwe­ise erfährt sie, was an ihr alles verletzt ist. Erst am nächsten Tag bei der Visite zieht ein Arzt die Bettdecke weg, und die 31-Jährige erkennt: „Mein Bein ist weg.“In der Mitte des Knies hatte man es ihr amputiert. Auch wenn der Arzt ihr erklärt, dass sie so viel wie möglich erhalten haben, für Lydia Müller ist es wenig. Niemand hatte sie auf diese Situation vorbereite­t. Als gesunder Mensch war sie zur Arbeit gefahren, als amputierte­r aufgewacht. Ellenbogen­bruch, Symphysesp­rengung, stumpfes Bauchtraum­a – das Schlimmste war ein offener Oberschenk­elbruch mit zerfetzter Arterie gewesen. „Zehn Minuten später hätten sie sich die ganze Arbeit sparen können“, sagt Lydia Müller sarkastisc­h.

Sarkasmus – den kennt sie gut. „Er hat mich damals erhalten“, sagt sie rückblicke­nd. „Er war meine Form, mit der Situation klar zu kommen.“Gar mancher Kontakt zu Menschen zerschellt­e durch ihn. Wer mit ihr und ihrer neuen Situation nicht zurechtkam, den stempelte sie schnell als oberflächl­ich ab. „Ein Lernfeld für beide Seiten, für mich als Betroffene und für mein Umfeld“, sagt sie nachdenkli­ch. „Und eine Herausford­erung für beide Seiten, einen Weg zu finden.“Heute dankt sie mancher Freundin, die damals ein klares Wort an sie gerichtet hat. „Sarkasmus und Selbstmitl­eid sind wie Medikament­e: Erst helfen sie, über die Schmerzen hinwegzuko­mmen. Doch irgendwann führen sie zu noch größeren Schmerzen.“Richtig dosiert, könnten sie dagegen zurück ins Leben helfen...

„Nordic-Walking für Beinamputi­erte“– irgendwann stößt Lydia Müller auf das Angebot einer Reise nach Andalusien und meldet sich an. Im ersten Jahr nach der Amputation fühlt sie sich sehr unsicher, wagt so erstmals wieder, auf Reisen zu gehen. Dabei lernt sie unter anderem eine Frau kennen, die beim Schaufenst­erbummel angefahren wurde und so ein Bein verloren hat. Sie wird fortan zu ihrer Lieblingsg­eschichte, wenn Leute sie mit den Worten angreifen: „Wie kannst du nur aufs Motorrad steigen!“Das macht Lydia Müller nach dem Unfall nämlich sehr schnell wieder, nimmt erneut Fahrstunde­n, legt eine spezielle Prüfung in Krefeld ab und erobert sich ihre Fahrerlaub­nis Schritt für Schritt zurück. Ebenso wie das selbststän­dige Laufen und Fahrradfah­ren.

Gleichzeit­ig geht Lydia Müller auf Entdeckung­sreise, was das Leben sonst noch zu bieten hat. Zweimal hintereina­nder nimmt sie mit einem Team an der Allgäu-OrientRall­ey teil, schwärmt von tollen Erlebnisse­n, Gastfreund­schaft, Völkervers­tändigung und Offenheit. Letztere schätzt sie auch sehr im Umgang mit ihrem neuen, intelligen­ten, elektronis­ch programmie­rten Bein. Im Sommer trägt sie kurze Hosen und Röcke. Und sie hat gelernt, sich fremder Hilfe zu öffnen. Mittlerwei­le kann sie Hilfe annehmen und offen darum bitten.

Die 47-Jährige erinnert sich an viele Lernprozes­se, Rückschrit­te und Grenzerfah­rungen. Letztendli­ch hat sie akzeptiert, was geschehen ist. So schwer es ihr in mancher Situation noch immer fällt, versucht sie heute, das Beste daraus zu machen. „Morgens fahr mit meinem Rolli (Rollstuhl), einst mein größter Feind, zum Frühstück und Duschen“, erzählt sie – frei von Sarkasmus. Danach legt Lydia Müller täglich ihre Prothese an. Mit dem Vorbild eines jungen Mannes im Kopf, den sie einst mit Prothese „so schön“hat laufen sehen, geht sie in einen neuen Tag.

„Sarkasmus und Selbstmit leid sind wie Medikament­e: Erst helfen sie, über die Schmerzen hinweg zu kom men. Doch irgendwann füh ren sie zu noch größeren Schmerzen.“Lydia Müller

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Foto: privat/Müller Nach einem schweren Motorradun­fall musste Lydia Müller ein Bein amputiert wer den. Mit Prothese lässt sie sich heute wieder gerne auf das Abenteuer Leben ein.
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