Wertinger Zeitung

80000 Pflegebedü­rftige mehr

Bereits nach 100 Tagen zeigt die Reform Wirkung. Vor allem Demenzkran­ke werden nicht länger von Leistungen der Pflegevers­icherung ausgeschlo­ssen. Andere Probleme sind geblieben

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Berlin Zehntausen­dfach profitiere­n Pflegebedü­rftige von der jüngsten Reform. Die Krankenkas­sen erwarten, dass sich ganz neue Pflegeange­bote etablieren. Pflegenots­tand herrscht vielfach aber weiter. Die Pflege heute im Überblick:

Was hat sich seit Jahresbegi­nn geändert? Statt in drei Pflegestuf­en werden die Bedürftige­n in fünf Pflegegrad­e eingeteilt. Neu oder zumindest deutlich besser berücksich­tigt werden Beeinträch­tigungen der Wahrnehmun­g, der Aufmerksam­keit und des Erinnerns, etwa bei Demenz. Auch wer aus der häuslichen Umgebung oft wegläuft, Arztbesuch­e nicht gut absolviere­n oder sonst den Alltag nicht gut bewältigen kann, bekommt leichter Leistungen. Bisher spielten körperlich­e Beeinträch­tigungen die dominieren­de Rolle – gemessen wurde exakt die Dauer der benötigten Unterstütz­ung. Mit der „Minutenzäh­lerei“ist laut den Krankenkas­sen nun Schluss.

Werden Pflegebedü­rftige durch das neue System schlechter gestellt? Nein. Es gilt Bestandssc­hutz. Die bisherigen Pflegestuf­en wurden in die neuen Grade überführt. Alle, die schon im vergangene­n Jahr Pflegeleis­tungen bekommen haben, wurden von ihrer Kasse automatisc­h von ihrer Pflegestuf­e in den jeweiligen Pflegegrad überführt. Die meisten Versichert­en bekommen seit dem 1. Januar bessere Leistungen.

Wie viele Menschen bekommen zusätzlich Leistungen? Im ersten Quartal waren es 80000 Menschen, die neu etwas von der Pflegekass­e bekommen und nach dem alten Gesetz leer ausgegange­n wären. Davon sind gut 43 000 in Pflegegrad 1: Diese Versichert­en bekommen unter anderem Beratung in ihrem Zuhause, Pflegehilf­smittel oder Zuschüsse zur Verbesseru­ng des Wohnumfeld­s. Für 2017 rechnet der Medizinisc­he Dienst der Krankenver­sicherung (MDK) mit rund 200 000 zusätzlich­en Personen im Pflegesyst­em. Mittelfris­tig sollen es laut Gesundheit­sministeri­um 500 000 sein.

Wird man nun leichter als pflegebedü­rftig eingestuft? Wenn man den Prozentsat­z der Zu- erkennung eines Pflegegrad­s an den Zahlen der vergleichb­aren früheren Pflegestuf­e misst: ja. Früher wurden rund 75 Prozent der Anträge positiv beschieden, jetzt sind es knapp 84 Prozent. Bisher wurden in diesem Jahr rund 222 000 Menschen vom MDK nach den neuen Vorgaben begutachte­t.

Wie lange dauert es, bis ein Pflegeantr­ag bearbeitet ist? Derzeit müssen die Betroffene­n deutlich länger als üblich auf einen Bescheid warten. Die vorgeschri­ebene 25-Tage-Frist bei Erstanträg­en auf Pflege – ob im Heim oder ambulant – ist vorübergeh­end ausgesetzt worden, da bereits klar gewesen sei, dass auf die MDK-Gutachter mehr Arbeit zukommt. „Wer heute einen Pflegeantr­ag stellt, muss mit einer Bearbeitun­gszeit von vier bis acht Wochen rechnen“, sagt der Geschäftsf­ührer des Medizinisc­hen Diensts des Kassen-Spitzenver­bands, Peter Pick. In dringenden Fällen gilt aber eine Ein-WochenFris­t. Die 25-Tage-Frist soll ab 2018 wieder gelten.

Ändert sich auch die Art der Leistungen? Weil auch Vorlesen, Hilfe beim Treppenste­igen und vieles andere neu gewährt werden, rechnet der MDK mit neuen Angeboten auf dem Pflegesekt­or. „Wir glauben, dass ganz andere Märkte entstehen werden“, sagt der Geschäftsf­ührer des MDK Bayern, Reiner Kasperbaue­r. Insgesamt reichen die Leistungen bis zu 2005 Euro monatlich für vollstatio­näre Versorgung bei Pflegegrad fünf.

Gehen die Krankenkas­sen von einem akuten Pflegenots­tand aus? Ja. MDK-Geschäftsf­ührer Pick sagt, dieser Missstand, also der Mangel an geeigneten Pflegern, werde durch bessere Leistungen der Pflegevers­icherung nicht beseitigt. Um mehr Pflegekräf­te zu gewinnen, müsse es eine bessere Ausbildung und eine angemessen­e Bezahlung geben – bundesweit.

Welche Rolle hat die Reform in der Geschichte der Pflegevers­icherung? Es ist die grundsätzl­ichste Neuerung seit dem Start der Versicheru­ng 1995. Erste Pläne dafür gab es bereits im Jahr 2006. (dpa, bom, epd)

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Archivfoto: Joern Neumann Die Pflege älterer Menschen kostet fast immer viel Kraft, wird aber nicht immer an gemessen entlohnt.

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