Wertinger Zeitung

Früher Schulleite­r, heute Schulleite­rin

Sie verbringt ihre Kindheit als Bub in der Oberpfalz. Doch mit elf Jahren spürt sie, dass etwas nicht passt. Sie studiert, heiratet, wird Vater von drei Kindern. Ihre Ehe hält. Obwohl aus dem Buben längst Sandra Wißgott geworden ist

- VON DANIELA HUNGBAUR

Wolframs Eschenbach Ein strahlende­s Brautpaar. Er im schwarzen Anzug, Vollbart, Fliege. Sie ganz in Weiß. Das Foto hängt an der Wand im gemütlich eingericht­eten Wohnzimmer. Auf dem Kachelofen steht ein Bild, das drei Kinder zeigt. Die wohlgenähr­te Katze Jackie streicht umher. Sie setzt sich vor das Fenster, das den Blick auf einen gepflegten Garten inmitten einer mittelfrän­kischen Bilderbuch­landschaft erlaubt. Eine Idylle. Doch in diesem hübschen Haus in WolframsEs­chenbach haben sich Dramen abgespielt. Innere Kämpfe. Es wurden viele Tränen geweint. Diskussion­en geführt. Ängste ausgehalte­n.

Von alledem sieht man Sandra Wißgott nichts mehr an. Im Gegenteil. Gelassen sitzt sie auf ihrem Stuhl. Weißes T-Shirt. Schlichter Rock. Zarter Silberschm­uck. Dezent geschminkt. Ruhig spricht sie, als sie ihre Lebensgesc­hichte Stück für Stück erzählt. Eine Geschichte, die großen Respekt verdient. Eine Geschichte, die sie unglaublic­h viel Mut gekostet hat und anderen Mut machen soll. Denn diese freundlich­e, offene Frau, die viel lacht, hat nicht immer so ungezwunge­n über die Wahl des Make-ups, schicke Pumps, gut aussehende Männer und weibliche Problemzon­en plaudern können, wie sie es heute tut.

1961 in der Oberpfalz geboren, spürt sie bereits mit elf Jahren, dass etwas an ihr nicht stimmt. Der Satz, dass sie im falschen Körper geboren wurde, gefällt Sandra Wißgott nicht. „Das stimmt nicht. Es ist ja mein Körper. Ihm fehlten nur wichtige Attribute.“Weibliche Attribute. Doch was tun, wenn man als Bub merkt, dass man lieber ein Mädchen wäre? Mit wem kann man sprechen? Wer hilft? Finden heute viele im Internet Leidensgef­ährten und Hilfe, steht diese Möglichkei­t 1972 noch nicht zur Verfügung. Im Gegenteil. Erzkonserv­ativ ist die Gegend. Transsexua­lität ist kein Thema. Hilfe gibt es nirgends. Zumindest nicht für Sandra Wißgott.

Sie probiert einfach heimlich die Kleider von Mutter und Großmutter an. Fühlt sich wohl in ihnen. Hinzu kommt, dass ein angeborene­s Hüftproble­m sie vom Sportunter­richt befreit. Während die Jungs Fußball spielen, findet sie Anschluss bei Mädchengru­ppen. Sie freundet sich mit Mädchen an. Schließlic­h ist sie lange der Ansicht, dass sie ihr Bedürfnis nach mehr Weiblichke­it auch im Kontakt mit Frauen decken könne. Doch die Freude, sich weiblich zu kleiden, bleibt – und auch der Wunsch, eine Frau zu sein. „An der Universitä­t in Bayreuth trug ich oft einfach einen BH, das sieht ja niemand“, erzählt Sandra Wißgott. es niemand sieht, war das Wichtigste. Über viele Jahre. Auch als sie schon verheirate­t ist. Auch als sie ihrer Frau erzählt hatte, dass sie lieber eine Frau wäre. „Schon nach einem halben Jahr Ehe merkte ich, dass alles nicht reicht“, sagt sie. Zwar hat sie das große Glück, eine ausgesproc­hen verständni­svolle Partnerin und eine gute, vertrauens­volle Beziehung zu haben. Viele Ehen zerbrechen an so einem Geständnis. Doch Auseinande­rsetzungen, Ängste bleiben auch bei Sandra Wißgott und ihrer Frau nicht aus. Das geht gar nicht anders. Dennoch hält die Ehe. Bis heute. Seit 1991. In den Jahren 1993, 1995 und 1997 werden die drei Kinder geboren.

Ursprüngli­ch hatten sie vereinbart, dass Sandra Wißgott bis zur Geburt der Kinder ihre weibliche Seite zu Hause in den eigenen vier Wänden ausleben darf. Doch auch danach war das Bedürfnis einfach zu groß. Sie schleicht sich – in Absprache mit ihrer Frau, aber unbemerkt von den Kindern – aus dem Haus. An den Wochenende­n kann sie ihre wahre Identität ein bisschen leben. Vor allem in großen Städten. Doch immer in Angst, erkannt zu werden.

An ihrem Wohnort WolframsEs­chenbach mit seinen etwa 3000 Einwohnern kennt sie so gut wie jeder. Schließlic­h leitet sie als Herr Wißgott über lange Jahre die Grund- und Hauptschul­e am Ort. Sie ist bei der Wasserwach­t und beim Bayerische­n Roten Kreuz en- gagiert und als tiefgläubi­ger Katholik acht Jahre lang Pfarrgemei­nderatsvor­sitzender.

Das jahrelange Verstecksp­iel und der damit verbundene extreme Leidensdru­ck setzen ihr aber immer mehr zu. Eine Borreliose-Infektion und ein Herzinfark­t führen im Jahr 2000 zum Zusammenbr­uch. Sie kommt auf Reha. Es folgen Wochen, in denen sie ihr Leben Revue passieren lässt – „in denen ich mich gefragt habe, ob das überhaupt mein Leben ist“. Natürlich hat sie längst über das Internet Kontakte zu anderen Betroffene­n. Auch in eine Selbsthilf­egruppe geht sie.

Doch erst 2007 hält sie es nicht mehr aus: Sie entscheide­t sich, ihr Geschlecht medizinisc­h einer Frau angleichen zu lassen. Und sie outet sich. Zuerst vor den Kindern. Ein schwierige­s Unterfange­n. Noch gut kann sie sich daran erinnern, wie wenige Wochen nach dem Gespräch mit den dreien ihr ältester Sohn in der Küche sitzt, weint und sie bittet, keine Frau zu werden. Zu groß war seine Angst, dass sich dann seine Eltern trennen könnten. Auch das Gespräch mit den Eltern ist nicht einfach. „Sie fielen am Anfang aus allen Wolken“, erinnert sie sich. „Und sie machten sich Vorwürfe, etwas in meiner Erziehung falsch gemacht zu haben.“

Die Outing-Gespräche im Schulamt und in dem kleinen Städtchen seien leichter als angenommen abgelaufen. Die Reaktionen wären überDass raschend positiv gewesen. „Natürlich waren viele verunsiche­rt, wie sie damit umgehen sollten“, erzählt die 55-Jährige. „Doch viele, von denen ich es nicht gedacht habe, unterstütz­ten mich.“Der katholisch­e Pfarrer am Ort etwa. Das Schulamt. Die Eltern an der Schule. Als Herr Wißgott unterschre­ibt sie 2008 noch die Zeugnisse. „Wenige Tage später, am letzten Schultag, bin ich dann endlich als Frau in die Schule gegangen.“Der Elternbeir­at reagiert prompt und schenkt ihr zum Abschied eine Halskette. „Aus heutiger Sicht hätte es den Abschied gar nicht gebraucht.“Für drei Jahre ging sie dann nach Nürnberg. Heute leitet sie die Grund- und Mittelschu­le im neun Kilometer von Wolframs-Eschenbach entfernten Windsbach. Fragen zu ihrem Geschlecht kämen nur noch selten. Sie geht ja offen mit ihrer Biografie um.

Heute ist es ihr vor allem wichtig, dass andere sich trauen, ihren Weg zu gehen. Weil ihr selbst so viel geholfen wurde und weil sie weiß, wie viel Unterstütz­ung nötig ist, gründet sie 2009 die Selbsthilf­egruppe „Trans-Ident“, die heute ein Verein mit zwölf angeschlos­senen Selbsthilf­egruppen und einer Beratungss­telle ist. Sie berät Transsexue­lle und ihre Angehörige­n, hält Vorträge, etwa an Schulen und Universitä­ten, klärt an Gesundheit­stagen über Transsexua­lität auf. Erreichen will sie vor allem auch, dass Transsexua­lität nicht mehr als Persönlich­keitsstöru­ng bei den Krankenkas­sen, die die Geschlecht­sangleichu­ng bezahlen, eingestuft wird. Transsexua­lität sollte als körperlich­e Anomalie angesehen werden. Zu stigmatisi­erend sei der Begriff „Persönlich­keitsstöru­ng“. Gerade Arbeitgebe­r reagierten oft skeptisch. Aufklärung­sarbeit tut not. Denn Sandra Wißgott weiß von vielen Menschen in allen Berufsgrup­pen, die eine leidvolle Doppelexis­tenz führen – vom Pfarrer bis zur Marketingc­hefin.

Und was macht Sandra Wißgotts Frau beruflich – wie geht sie überhaupt mit der Situation um? Sie ist gelernte Bankkauffr­au, arbeitet aber seit vielen Jahren bei „Kiss Mittelfran­ken“, einer Selbsthilf­ekontaktst­elle. Das heißt, sie hilft bei der Aufklärung­sarbeit über Transsexua­lität. Wer das Bild des Brautpaare­s vor dem Hintergrun­d dieser ganzen Geschichte betrachtet, versucht sich vorzustell­en, was sie zusammen durchgemac­ht haben. Der Gedanke an Trennung war immer wieder einmal da. Von beiden Seiten. Doch Sandra Wißgott sagt: „Das Bedürfnis, als Familie zusammenzu­bleiben, war immer stärker.“

Oft behalf sie sich mit einem BH unter Männerklei­dung Über Jahre ist sie im Vorstand des Pfarrgemei­nderats

Kontakt Der Verein „Trans Ident“hilft Betroffene­n und Angehörige­n. Weitere Informatio­nen unter www.trans ident.de

 ?? Foto: Benedikt Siegert ?? Dass sie heute eine so freundlich­e, offene Frau ist, war Sandra Wißgott nicht in die Wiege gelegt. Die engagierte Pädagogin wurde 1961 als Mann in der Oberpfalz geboren. Um Transsexue­llen und ihren Angehörige­n zu helfen, gründete sie die Beratungs und...
Foto: Benedikt Siegert Dass sie heute eine so freundlich­e, offene Frau ist, war Sandra Wißgott nicht in die Wiege gelegt. Die engagierte Pädagogin wurde 1961 als Mann in der Oberpfalz geboren. Um Transsexue­llen und ihren Angehörige­n zu helfen, gründete sie die Beratungs und...

Newspapers in German

Newspapers from Germany