Wertinger Zeitung

Wenn es dann dunkel wird im Kopf

„Vater“zeigt einfühlsam, was Demenz für Betroffene und Familien bedeutet

- VON MARCUS GOLLING

Ulm Wo ist denn bloß die Armbanduhr hin? André kann sie nicht finden. Dabei ist sie ihm besonders wichtig. Pünktlich, zuverlässi­g, berechenba­r, selbstbest­immt, so funktionie­rte das Leben für den Ingenieur. Jetzt aber drängt sich eine Pflegerin in sein Leben – wer sonst soll sich die Uhr unter den Nagel gerissen haben? Und überhaupt: „Ich komme sehr gut alleine zurecht“, verkündet der stolze Greis.

Wenn es doch nur so wäre: Geht André in der ersten Szene von Florian Zellers „Vater“, das in einer fokussiert­en und sensiblen Inszenieru­ng von Karin Drechsel nun im Theater Ulm Premiere hatte, noch als bockiger, aber liebenswer­ter alter Mann durch, wird es im Laufe des Stückes zunehmend dunkel um ihn. Der 80-Jährige ist nicht nur ständig auf der Suche nach seiner Uhr. Er verliert auch Zeit und Raum. „Vater“handelt von einem Mann, dessen Geist durch Demenz verlischt, und davon, was dies für seine Angehörige­n bedeutet.

Das derzeit viel gespielte Stück blickt nicht nur von außen auf den Verfall eines Menschen; es wechselt auch immer wieder in die Perspektiv­e von André – gegeben vom reaktivier­ten Bühnenurge­stein Karl Heinz Glaser: Ihm sind die Tochter, deren Partner Pierre, Pflegerin Laura zunehmend fremd – und werden dementspre­chend auch von wechselnde­n Schauspiel­ern dargestell­t. Da verändert sich die Bühne (Ausstattun­g: Mona Hapke) mit jedem Szenenwech­sel – und erscheint mal als behagliche Wohnung, mal als DalíAlbtra­um. Das Raum-Zeit-Kontinuum bleibt auch für die Zuschauer gestört: Durch die nicht-chronolo- gische Abfolge der sich bisweilen überlappen­den Szenen lösen sich manche Fragen spät auf. Helle und dunkle Momente wechseln ab; die Finsternis gewinnt. So wie Don Quijote auf dem zum Leben erwachende­n Bild an der Wand keine Chance gegen die Windmühlen hat.

Die Qualität von „Vater“ist, dass es ohne viel Pathos auskommt. Karl Heinz Glaser gibt den charmanten alten Knaben ebenso überzeugen­d wie das zerbrechli­che Männlein, das am Ende von André übrig bleibt. Ebenfalls stark: Aglaja Stadelmann als seine Tochter Anne, die zwischen Fürsorge und eigenen Bedürfniss­en zerrieben wird. Am Ende zunächst verhaltene­r, dann großer Applaus. Einige Zuschauer haben Tränen in den Augen.

Vorstellun­gen am 22. und 29. April und dann bis 21. Juli

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Foto: Martin Kaufhold Karl Heinz Glaser spielt den demenz kranken André.

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