Wenn es dann dunkel wird im Kopf
„Vater“zeigt einfühlsam, was Demenz für Betroffene und Familien bedeutet
Ulm Wo ist denn bloß die Armbanduhr hin? André kann sie nicht finden. Dabei ist sie ihm besonders wichtig. Pünktlich, zuverlässig, berechenbar, selbstbestimmt, so funktionierte das Leben für den Ingenieur. Jetzt aber drängt sich eine Pflegerin in sein Leben – wer sonst soll sich die Uhr unter den Nagel gerissen haben? Und überhaupt: „Ich komme sehr gut alleine zurecht“, verkündet der stolze Greis.
Wenn es doch nur so wäre: Geht André in der ersten Szene von Florian Zellers „Vater“, das in einer fokussierten und sensiblen Inszenierung von Karin Drechsel nun im Theater Ulm Premiere hatte, noch als bockiger, aber liebenswerter alter Mann durch, wird es im Laufe des Stückes zunehmend dunkel um ihn. Der 80-Jährige ist nicht nur ständig auf der Suche nach seiner Uhr. Er verliert auch Zeit und Raum. „Vater“handelt von einem Mann, dessen Geist durch Demenz verlischt, und davon, was dies für seine Angehörigen bedeutet.
Das derzeit viel gespielte Stück blickt nicht nur von außen auf den Verfall eines Menschen; es wechselt auch immer wieder in die Perspektive von André – gegeben vom reaktivierten Bühnenurgestein Karl Heinz Glaser: Ihm sind die Tochter, deren Partner Pierre, Pflegerin Laura zunehmend fremd – und werden dementsprechend auch von wechselnden Schauspielern dargestellt. Da verändert sich die Bühne (Ausstattung: Mona Hapke) mit jedem Szenenwechsel – und erscheint mal als behagliche Wohnung, mal als DalíAlbtraum. Das Raum-Zeit-Kontinuum bleibt auch für die Zuschauer gestört: Durch die nicht-chronolo- gische Abfolge der sich bisweilen überlappenden Szenen lösen sich manche Fragen spät auf. Helle und dunkle Momente wechseln ab; die Finsternis gewinnt. So wie Don Quijote auf dem zum Leben erwachenden Bild an der Wand keine Chance gegen die Windmühlen hat.
Die Qualität von „Vater“ist, dass es ohne viel Pathos auskommt. Karl Heinz Glaser gibt den charmanten alten Knaben ebenso überzeugend wie das zerbrechliche Männlein, das am Ende von André übrig bleibt. Ebenfalls stark: Aglaja Stadelmann als seine Tochter Anne, die zwischen Fürsorge und eigenen Bedürfnissen zerrieben wird. Am Ende zunächst verhaltener, dann großer Applaus. Einige Zuschauer haben Tränen in den Augen.
Vorstellungen am 22. und 29. April und dann bis 21. Juli