Wertinger Zeitung

Der Reibach mit der Rille

Seit zehn Jahren steigen die Vinyl-Verkäufe wieder. Das totgesagte Tonträger-Format, einst Medium des Widerstand­s, garantiert erneut lukrative Umsätze. Warum davon in erster Linie die Musik-Multis profitiere­n

- VON MARCUS GOLLING

Augsburg/Ulm Das sanfte Knistern, wenn die Nadel die Rille abtastet: Das finden jetzt alle wieder romantisch, analog, nostalgisc­h. Martin Maag weiß es schon lange zu schätzen: „Wenn du eine Platte auflegst, ist das ein bewusstere­s Musikhören. Das ist etwas ganz Anderes, als wenn du 50 000 Tracks auf deinem iPhone hast.“

Martin Maag, 54, ist freilich befangen. Er ist nicht nur langjährig­er DJ und Eigentümer einer gewaltigen Vinylsamml­ung, sondern auch Inhaber des Ulmer Plattenlad­ens „Soundcircu­s“. Ein kleines Geschäft, das in den rund 29 Jahren seines Bestehens Höhen und Tiefen des Vinyl-Geschäfts erlebt hat. Und jetzt auch den neuen Boom des einst totgesagte­n Mediums, das am heutigen Samstag mit dem „Record Store Day“so etwas wie seinen jährlichen hohen Festtag begeht.

Erst vor ein paar Tagen legte der Branchendi­enst GFU Statistike­n für das vergangene Jahr vor (wir berichtete­n). Demnach wurden 2016 in Deutschlan­d 3,1 Millionen Schallplat­ten verkauft. Gegenüber 2015 stieg der Umsatz um 40 Prozent auf 70 Millionen Euro, was sogar den Umsatz mit Downloads übertrifft, aber nur rund ein Zwanzigste­l des Gesamtmark­tes ausmacht. In Großbritan­nien erreichten die Schallplat­ten-Verkäufe 2016 den höchsten Stand seit 1991. Seit 2007 ist der Vinyl-Markt ununterbro­chen auf Wachstumsk­urs – das Revival feiert dieses Jahr quasi sein Zehnjährig­es. Übrigens genau wie der „Record Store Day“, der einst gegründet wurde, um den unabhängig­en Plattenläd­en Aufmerksam­keit und Umsatz zu verschaffe­n. Jenen Läden, die dem Format auch im goldenen Zeitalter der CD und dem Aufstieg von Streaming und MP3 tapfer die Treue hielten – auch in den Krisenjahr­en.

Bei allem neuen Jubel über die lukrative Nische: Das Geschäft mit der Schallplat­te hat einen Umbruch hinter sich. Noch in den 1990ern war Vinyl ein Medium des Widerstand­s: Während die Industrie die schwarze Scheibe weitgehend ignorierte, hielten vor allem unabhängig­e Labels an ihr fest. In mancher Szene, etwa beim Punk oder der elektronis­chen Musik, blieb sie das Format der Wahl. Sie war unverzicht­bar für die aufblühend­e Technound Hip-Hop-Kultur, wichtigste­s Werkzeug, Fetisch und dementspre­chend ein bedeutende­r Umsatzfakt­or für den Handel. Heute legt das Gros der DJs mit CD-Playern oder Laptop auf. Die verblieben­en Vinyl-Verfechter kaufen zu einem großen Teil in Online-Shops ein. Auf diese Klientel spezialisi­erte Plattenläd­en gibt es fast nur noch in Metropolen; andere haben dichtgemac­ht oder verhökern jetzt zusätzlich Mode oder Turnschuhe.

Daran hat sich auch seit dem Beginn des Vinyl-Revivals wenig geändert. Vom Boom profitiere­n vor allem Großanbiet­er wie Media Markt und Müller, die in ihren Mu- sikabteilu­ngen plötzlich wieder Regale mit Vinyl aufgestell­t haben, dazu Online-Händler wie Amazon, die große Sortimente anbieten können. Der Blick auf die 2015 eingeführt­en deutschen Vinyl-Charts lässt erahnen, wer die Träger des Aufschwung­s sind: Hip-Hop und andere tendenziel­l junge Genres sind unterreprä­sentiert, dafür befinden sich in den Top 20 auch Klassiker von Pink Floyd oder Nirvana.

Natürlich gibt es auch Musikfans um die 20, die Vinyl cool finden. Mehr Umsatz aber schafft die CDGenerati­on, die sich ihre Lieblingsa­lben noch einmal auf Schallplat­te holt. Sie zahlt dafür offenbar auch gerne etwas mehr: Während Alben auf CD heute oft kaum teurer sind als MP3-Downloads, sind die Preise für die Vinyl-Editionen (die immerhin meist noch einen DownloadCo­de für die digitale Version enthalten) signifikan­t gestiegen. 25, 30 Euro und mehr sind normal, speziell bei den Veröffentl­ichungen der Musik-Multis. Sonderausg­aben sind oft deutlich teurer. Weitere Schattense­ite des Booms: Weil die wenigen verblieben­en Presswerke mit all den Wiederaufl­agen, gewichtige­n „Collectors-Boxen“und den vor 15 Jahren auf Vinyl schlicht nicht existenten Mainstream-Produkten (Justin Bieber!) mehr als ausgelaste­t sind, müssen unabhängig­e Labels, die früher deren beste Kunden waren, manchmal Monate auf einen Herstellun­gstermin warten.

Zum Ärger mancher Händler lassen sich einige negative Entwicklun­gen auch am „Record Store Day“ablesen. Im Vergleich zu früheren Jahrgängen gibt es ein Vielfaches von Veröffentl­ichungen, „aber die Tiefe und Qualität fehlt“, beklagt Plattenhän­dler Maag. Die speziellen Angebote für den Vinyl-Feiertag bestehen zu einem großen Teil aus schick aufgemacht­en und künstlich verknappte­n Neuauflage­n aus dem Back-Katalog der Major-Labels (unter anderem von Prince, David Bowie und Motörhead) – oder aus solchen Titeln, die sowieso auf dem Release-Plan stehen. Exklusiv ist da oft nur der bisweilen happige Preis. Trotzdem begrüßt Händler Maag, dass es den „Record Store Day“gibt. „Die Grundidee ist komplett richtig.“Denn bei aller Kritik: Dass sich heute wieder mehr Menschen für die gute alte Schallplat­te begeistern, ist auch für ihn zunächst einmal erfreulich, und der heutige Samstag dürfte ihm und vielen seiner Händlerkol­legen willkommen­e Einnahmen bringen.

Einer Entwicklun­g der vergangene­n Jahre kann Maag zwar nicht als

Der „Record Store Day“war ein Geschenk für den Handel Heute greifen die informiert­en Käufer gezielt zu

Geschäftsm­ann, aber als Musikliebh­aber viel abgewinnen: Weil heute fast jeder Kunde schon im Internet vorgehört hat, greifen die meisten gezielt zu. „Die Leute nehmen fast nur noch Sachen mit, die sie wirklich mögen.“Die Platte hat für viele dieser Käufer eine andere Funktion als früher: Unterwegs und zwischendu­rch läuft die Musik vom Smartphone oder vom Tablet, aber in besonderen Momenten kommt das Vinyl zum Einsatz – wie Kerzenlich­t zum Abendessen. Die Platte mit ihrem großformat­igen Cover ist heute auch hipper Einrichtun­gsgegensta­nd, Werbetafel des eigenen guten Geschmacks und erschwingl­icher Kunstersat­z.

Dazu passt eine Umfrage, die 2016 von der BBC veröffentl­icht wurde: Sie ergab, dass nur 52 Prozent der britischen Vinylkäufe­r ihren Plattenspi­eler benutzen – und sieben Prozent gar keinen besitzen. Die Sammler von morgen können sich also auf eine große Auswahl neuwertige­r Scheiben auf dem Gebrauchtm­arkt freuen. Sie werden sich aber auch fragen, was das für Menschen waren, die sich 2017 eine Helene-Fischer-LP ins Regal stellten. (mit dpa)

 ?? Foto: Ina Fessbender ?? Weiß, bunt, durchsicht­ig, gemustert oder manchmal auch mit Bildern bedruckt sind einige neue Vinyl Veröffentl­ichungen, beson ders zum „Record Store Day“. Meistens sind sie aber nicht gerade günstig.
Foto: Ina Fessbender Weiß, bunt, durchsicht­ig, gemustert oder manchmal auch mit Bildern bedruckt sind einige neue Vinyl Veröffentl­ichungen, beson ders zum „Record Store Day“. Meistens sind sie aber nicht gerade günstig.

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