Wertinger Zeitung

Und dir, dir, dir…

Den einen sind die privaten Momente des Familienle­bens heilig, die anderen lassen an Erlebnisse­n wie der Hochzeit oder Geburt des Kindes die große weite Youtube-Welt teilhaben – und machen damit das große Geld

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Über 430000 Mal haben sich Menschen angesehen, was diese Familie aus einem Londoner Vorort an einem ganz normalen Oktober-Tag erlebte: Wie Emilia am Morgen mit einer roten Schleife im Haar zur Schule ging und am Abend versuchte, ihrem kleinen Bruder Lippenstif­t ins Gesicht zu schmieren. Außerdem, wie ihr Vater Jonathan die Verwandtsc­haft vom Flughafen abholte und wie die Kinder dem Geschwiste­rchen im Bauch ihrer Mutter zum ersten Mal ein „Hallo“zuflüstert­en. Zu sehen ist das alles in einem Video auf der Internetse­ite Youtube, über 430000 Mal angeklickt. Das Video dokumentie­rt in circa einer Viertelstu­nde den Tag dieser Familie. Und so ein Video gibt es nicht nur über diesen Tag im vergangene­n Oktober. Täglich stellt die Familie so ein Video ins Netz.

Die Familie mit dem italienisc­hirischen Nachnamen Saccone-Joly ist eine Youtube-Familie. Das bedeutet: Der Alltag wird mit einer kleinen Handkamera gefilmt und anschließe­nd ein Video im Internet veröffentl­icht. Man könnte sagen, diese Familie nimmt tausende Menschen an der Hand und sagt: „Komm, wir zeigen dir unsere Welt. Und dir, dir und dir auch.“Für die Zuschauer ist es ein bisschen wie Reality-TV. Nur dass das Drehbuch das Leben schreibt und das Ganze nicht im Fernsehen läuft, sondern im Internet zu finden ist. Dieser Ort, an dem viele Menschen ihre persönlich­en Daten alles andere als gerne hinterlass­en. Dieses Internet, von dem man sagt, es vergesse nichts. Für eine Youtube-Familie wird es zum Familienar­chiv.

Fast 1,8 Millionen Menschen sind Abonnenten des Kanals „SacconeJol­ys“, also sozusagen Fans dieser Familie aus einem Londoner Vorort. Auf noch mehr Anhänger bringen es Familien aus den USA: Den „Shaytards“folgen fast 5 Millionen, dem Kanal „Bratayley“über 4 Mil- Menschen. Ein entscheide­nder Punkt, der dabei für diese Familien eine Rolle spielt: Sie können von den Videoclips über ihr Leben, nun ja, leben.

Auch in Deutschlan­d gibt es Familien, die auf diese Weise Geld verdienen – wenn die Zahlen auf den ersten Blick auch nicht so beeindruck­end wirken. Doch deutschen Youtubern, sozusagen die Berufsbeze­ichnung, seien allein wegen der Sprache andere Grenzen gesetzt als etwa US-amerikanis­chen, erklärt Henning Dorstewitz, Pressespre­cher von Youtube Deutschlan­d. „Mit 100000 bis 120000 Abonnenten gilt man hier schon als sehr erfolgreic­h.“Beispielsw­eise 193 000 Menschen sind es mittlerwei­le, die den Kanal „Family Fun“abonniert haben. Dort veröffentl­icht eine vierköpfig­e Familie aus Gersthofen bei Augsburg Videos über ihren Alltag. Ebenso auf Erfolgskur­s ist etwa der Kanal „Rosislife“. Über 140 000 Abonnenten sehen sich regelmäßig an, was Mama, Papa, Töchter und der Golden Retriever am Niederrhei­n treiben.

Gefilmt wird das Geplapper der Kinder am Frühstücks­tisch, das Toben auf dem Spielplatz, das Gassigehen mit den Hunden, der Kindergebu­rtstag, Urlaube. Das ist aber nicht alles: Auch Geburten, Hochzeit, Heiratsant­rag werden in den Filmchen festgehalt­en. Genauso aber: die trauernde Familie nach dem Tod des Sohnes oder eine Fehlgeburt in elften Schwangers­chaftswoch­e. Abrufbar für jedermann, jederzeit, überall auf der Welt. Und gerade solche Videos werden zahlreich angeklickt.

So ist das mit Abstand beliebtest­e Video der Saccone-Jolys die Geburt von Tochter Emilia. Über 4,5 Millionen Mal wurde das Filmchen seit September 2012 aufgerufen. Es zeigt die frühmorgen­dliche Fahrt ins Krankenhau­s, die werdende Mutter in den Wehen und schließlic­h das gähnende Baby im Arm des frischgeba­ckenen Papas. Wohl der Höhepunkt im Leben des jungen Paares – der mittendrin jedoch von einem kurzen Werbeclip für eine „revitalisi­erende“Haarpflege-Serie unterbroch­en wird.

Denn: „Youtuber haben die Möglichkei­t, ihre Videos als Werbefläch­e freizugebe­n“, erklärt Joachim Gerloff, Autor des Buchs „Erfolgreic­h auf Youtube: Social-MediaMarke­ting mit Online-Videos“(Mitp-Verlag, 19,99 Euro). Voraussetz­ung, um am Umsatz beteiligt zu werden, ist eine Partnersch­aft mit Youtube. Nach Angaben der Videoplatt­form stieg die Anzahl der Kanäle, die auf Youtube pro Jahr sechsstell­ige Einnahmen erzielen, im Vergleich zum Vorjahr um 50 Prozent. Gleichzeit­ig wächst das Videomater­ial unaufhörli­ch: Laut Pressespre­cher Dorstewitz kommen pro Minute 400 Stunden hinzu. Genutzt wird Youtube weltweit von mehr als einer Milliarde Menschen – das entlionen spricht fast einem Drittel aller Internetnu­tzer. Allein im Dezember 2016 sollen 78 Prozent der deutschen Internetnu­tzer Youtube aufgerufen haben. Das ist umgerechne­t mehr als jeder zweite Deutsche.

Je mehr Klicks das Video und Abonnenten der Kanal haben, desto lukrativer ist so ein in den Clip eingebette­ter Werbeplatz, sagt Gerloff. Offizielle Zahlen von YouTube, wie viel man mit diesen Werbeanzei­gen verdienen kann, gebe es nicht. „Schätzungs­weise sind es aber ein bis zwei Euro pro 1000 Videoaufru­fe.“Bei den Saccone-Jolys etwa, bei denen selbst die alltäglich­en Videos bis zu eine halbe Millionen Mal aufgerufen werden, dürfte da am Ende des Monats eine nette Summe zusammenko­mmen. Ihre Jobs außerhalb von Youtube haben die jungen Eltern jedenfalls schon vor ein paar Jahren gekündigt. Haus, Autos und Familienur­laube lassen schließen, dass es auch so ganz gut funktionie­rt.

Neben den Werbeeinna­hmen verdienen sich Youtuber laut Gerloff mit „gesponsert­en Videos“etwas dazu. Dabei stellt eine Firma Produkte zur Verfügung, die in Videos mehr oder weniger offensicht­lich präsentier­t werden. Zufall, dass beim Auspacken der neuen Play Station samt Zubehör oder beim Ausprobier­en eines neuen Waschmitte­ls die Kamera läuft? Gerade bei der Kleidung der Kinder lege sie wert auf Qualität, sagt die Familienmu­tder ter da nebenbei. Genug Sendezeit bleibt auch für die eigenen Merchandis­ing-Produkte wie Modeoder Schmuckkol­lektionen oder Adventskal­ender. Inklusive beiläufige­r, aber genauer Erklärung, wo die Artikel zu bekommen sind.

Ob es für die Familie hinter dem Kanal „Rosislife“für die Folge „Mega-Drama im DM“einen Zuschuss von der Drogeriema­rktkette gab? Dass Kooperatio­nen mit beliebten Youtubern der Vermarktun­g von Produkten recht dienlich sein können, haben in den vergangene­n Jahren die Marketing-Abteilunge­n vieler Unternehme­n erkannt. Beigetrage­n hat zu den fast 300000 Video-Aufrufen sicher aber das versproche­ne Drama. Denn der lautstarke Streit, der inmitten gefüllter Regale zwischen den Töchtern der Familie wegen einer orangefarb­enen Plastikfla­sche ausbricht, findet ebenfalls seinen Platz im Video. Was die Schwestern, beide unter zehn Jahre, dazu wohl später sagen werden?

Sich dagegen wehren, dass solche Bilder im Internet landen, können sich Kinder erst mit der sogenannte­n Einsichtsf­ähigkeit, sagt Professor Ulrich Gassner, Jurist an der Universitä­t Augsburg. Grundsätzl­ich hätten auch Kinder ein Recht am eigenen Bild, das besagt, dass der Abgebildet­e sein Okay zur Veröffentl­ichung geben muss. Kinder unter 14 können das allerdings nicht für sich entscheide­n, sagt Gassner. Sie seien darauf angewiesen, dass ihre Eltern keine Fotos veröffentl­ichen, die später nachteilig für sie sein könnten. Ab dem 14. Lebensjahr ist es in Deutschlan­d möglich, für bereits veröffentl­ichte Bilder einen Unterlassu­ngsanspruc­h gegen die Eltern und sogar Schadeners­atzansprüc­he durchzuset­zen, erklärt der Jurist. „In den USA und anderen Ländern ist der Schutz des Rechts am eigenen Bild aber teilweise geringer ausgeprägt.“

Nichts, weswegen sich seine Kinder unbehaglic­h fühlen könnten, werde auf dem Kanal der SacconeJol­ys gezeigt, sagt Familienva­ter Jonathan zu diesem Thema in einem Interview mit der britischen Zeitung The Telegraph. In seinen Augen das Erfolgsrez­ept des Kanals: Religion und Politik werden ausgeblend­et. Stattdesse­n sorge das „kleine spaßige Leben“seiner Familie dafür, dass sich die Zuschauer am Ende des Tages besser fühlten. Leichte Kost werde gerne konsumiert – das gelte generell für Entertainm­ent-Formate, sagt dazu Youtube-Experte Gerloff. Hinzu komme, dass sich die Zuschauer mit diesen Youtube-Familien „als ein Teil unserer Gesellscha­ft“identifizi­erten. Familienva­ter Jonathan sagt weiter, es komme vor allem auf die kleinen, unerwartet­en Momente des Alltags an. Momente eben, wie sie alle Eltern kleiner Kinder kennen.

Für einen kleinen Bonus in der Familienka­sse wird zuletzt der neueste Höhepunkt im Leben der Saccone-Jolys gesorgt haben. Vor kurzem fand auch das Video zur Geburt von Kind Nummer drei seinen Weg ins Internet. Damit, dass schon ihren Start in die Welt Millionen Menschen mehr oder weniger miterlebte­n, wird sich dieses Mädchen wohl abfinden müssen. Anderersei­ts freuen sich diese Millionen Menschen ja über das jüngste Familienmi­tglied. So viel Anteilnahm­e – wer kann das schon von sich behaupten?

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