Der selbstfahrende Wellness Tempel
Die neue Mercedes S-Klasse zeigt, wohin die Reise gehen kann im Automobilbau. Warum das nicht nur für Luxuskunden spannend ist
Es soll ja Menschen geben, die können oder wollen sich keine S-Klasse kaufen. Warum sich trotzdem ein Blick auf das komplett überarbeitete Flaggschiff von Mercedes lohnt?
Weil die Autoindustrie ihre Erfindungen in der Regel im hochpreisigen Segment einführt, lassen sich dort doch die Entwicklungskosten leichter einspielen. Erst nach und nach erhalten dann die billigeren Modelle ebenfalls die neuesten Segnungen der Technik. „Top down“lautet der Fachbegriff für diese Vorgehensweise. Anders gesagt: Wer wissen will, was morgen in der Breite kommt, muss heute auf die Spitze schauen.
Die Spitze – gemessen an den Verkaufszahlen in der Belle Etage kann es da nur eine geben: die Mercedes S-Klasse. Die Mutter aller Luxuslimousinen hat sich allein seit dem letzten Generationswechsel im Jahr 2013 rund 300000 Mal verkauft. Die Neuauflage, die eigentlich „nur“eine Modellpflege ist, soll an diese Erfolge anknüpfen. Dazu muss ein Auto, das Daimler-Chef Dieter Zetsche als „das beste der Welt“ansieht, ein bisschen mehr können als Passagiere einigermaßen bequem von A nach B zu transportieren. „Wir haben in keiner S-Klasse mehr Neuerungen gemacht als in dieser“, sagt Baureihen-Chef Hermann Storp, 60, der das Auto seit 17 Jahren betreut, was ihm den Spitznamen „Mr. S-Klasse“eingebracht hat.
Die Herausforderungen sind groß. Wie groß, lässt ein Blick nach China erahnen, dem wichtigsten Markt für den noblen Mercedes. Fast jedes dritte Exemplar der S-Klasse geht dorthin, weshalb sie derzeit auf der Automesse in Shanghai Premiere feiert. In den asiatischen Megacitys herrscht verrückt viel Verkehr; epische Staus sind an der Tagesordnung. Je mehr das Auto den Fahrer in dieser nervenaufreibenden Umgebung entlasten entspannen kann, desto besser. Außerdem gelten im Reich der Mitte strenge Emissionsgrenzwerte. Umweltsündern drohen hohe Abgaben und sogar Fahrverbote.
Dazu kommen die geschmacklichen Besonderheiten in Fernost. Der Chinese liebt Langversionen, lässt sich gerne chauffieren und sitzt bevorzugt hinten. Wer viel Zeit im Auto verbringt, ob freiwillig oder nicht, erwartet Komfort. In Asien schickt es sich, zu zeigen, was man hat. Deshalb muss das Fahrzeug zudem ein 1a-Statussymbol darstellen,
Spurwechsel Assistent Ein Antip pen des Blinkers genügt– und der Mercedes wechselt völlig selbstständig zum Beispiel von der rechten auf die linke Spur der Autobahn. Gegebenen falls wartet das System, bis ein an deres Fahrzeug passiert hat bezie hungsweise sieht nach, ob die Spur überhaupt frei ist.
Geschwindigkeits Assistent Auto erkennt Tempolimits und Richtgeschwindigkeiten und regelt die se selbstständig ein.
Nothalt Assistent Greift der Fahrer über eine längere Zeit und nach Das am besten durch eine majestätische Optik gelingt. Und der Luxusliner darf durchaus etwas kosten. Preise nannte Mercedes noch keine; die aktuelle S-Klasse beginnt bei rund 83 000 Euro. Modellwechsel ist im Juli.
Welche Antworten hat Mercedes auf die vielfältigen Anforderungen gefunden? Die leiseste beim Design. Die S-Klasse hat sich äußerlich kaum verändert; lediglich die Schweinwerfer an der Front (mit drei „Lichtfackeln“) und LEDHeckleuchten in Kristalloptik künund mehreren Warnungen nicht ins Ge schehen ein – etwa auf Grund einer Ohnmacht –, bremst das Auto von selbst bis zum Stillstand ab.
Staufolgefahren Im Stop and go Verkehr auf Autobahnen und auto bahnähnlichen Straßen sind Stopps bis zu 30 Sekunden möglich, nach de nen die S Klasse automatisch wieder anfährt und dem Vordermann folgt.
Park Assistent Er stellt das Riesen auto in fast jede Lücke, sogar dann, wenn der Fahrer gar nicht an Bord ist! In diesem Fall lässt sich der Vorgang per Smartphone steuern. (scht) den davon, dass es selbst im Establishment wieder etwas verspielter zugeht. Umso mehr hat sich unter dem Blechkleid getan. Dort werkeln komplett neue Diesel- und Benzinmotoren von 286 bis 630 PS. Spannend: Mercedes verabschiedet sich von der V-Formation und wechselt auf Reihensechszylinder, weil die laufruhiger sind und in der Konstruktion den Vierzylindern ähneln. Der letzte V8 im Angebot stammt von AMG, wird dort etwa im Sportwagen GT eingesetzt. Einen reinrassigen Stromer sucht man in den Reiwas hen der konservativen Limousine nach wie vor vergebens; der Hybride wurde aussortiert. Aber immerhin ist eine an der Steckdose zu ladende ertüchtigte Hybridversion mit 50 Kilometern elektrischer Reichweite in Planung. Und auch im Reihensechszylinder stecken bereits wichtige Hybridfunktionen. „Elektrifizierung des Verbrenners“lautet hier die Strategie der Stuttgarter. Das Bordnetz wird auf 48 Volt hochgerüstet. Zwei brandneue Aggregate treten ihren Dienst an: Eine E-Maschine, „Integrierter Starter Generator“ genannt, kann die Energie beim Bremsen zurückgewinnen und einen Elektro-Boost beim Beschleunigen erzeugen. Ein elektrischer Zusatzverdichter stopft das letzte Turboloch. Insgesamt soll der so unterstützte Sechszylinder-Ottomotor die Fahrleistungen eines Achtzylinders bringen bei deutlich geringerem Verbrauch. Zahlen, die dies belegen, legte Mercedes bislang nicht vor. Die Zertifizierung steht noch aus.
Neben den Emissionen das zweite Mega-Thema: autonomes Fahren. „Hier erreicht die S-Klasse ein neues Level“, sagt Daimler-Boss Zetsche. Das Heer der digitalen Helferlein übernimmt zu 80 bis 90 Prozent ganz alleine, und zwar nicht nur wie bisher vor allem auf Autobahnen, sondern selbst auf Landstraßen, wo die Aufgabe ungleich schwieriger ist. Das System bezieht nun auch Kartenund Navi-Daten in die Fahrt mit ein und reagiert vorausschauend auf das Streckenprofil. In der Praxis bedeutet das: Früher schaltete sich die Automatik aus, wenn der Wagen mit Tempomat und Lenkassistent auf eine enge Kurve, eine Kreuzung oder einen Kreisverkehr zurollte, und der Fahrer musste eingreifen. In Zukunft bremst der Wagen selbstständig ab und gibt wieder Gas, wenn die Stelle passiert ist.
Wer (theoretisch) so wenig Mühe für die Arbeit hinterm Volant aufbringen muss, hat umso mehr Zeit für die schönen Dinge des Lebens. Hier ist und bleibt das MercedesFlaggschiff Best in Class. Erstmals werden bekannte Annehmlichkeiten wie Massage(-sitze), Klimatisierung, Lichtstimmung, Musikauswahl und sogar der Duft des Raumluftsprays kombiniert. So genießen S-Klasse-Reisende regelrechte „Wellness-Anwendungen“(Zetsche). Die Programme dauern jeweils zehn Minuten. Frische, Vitalität, Wärme oder Behaglichkeit stehen zum Beispiel zur Auswahl. Die eingangs erwähnte „Top down“-Entwicklung in allen Ehren: Bis ein solcher Wohlfühlfaktor Einzug in eine C-Klasse oder in irgendein anderes Auto hält, dürfte es dauern. Hermann Storp jedenfalls wird dann schon lange in Rente sein. Mister S-Klasse geht Ende des Jahres, schweren Herzens.
Autonom fahren – das können die Assistenten