Wertinger Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (2)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Eine für Verspreche­r, eine für körperlich­e Missgeschi­cke, eine für gescheiter­te Pläne, eine für Ausrutsche­r in Gesellscha­ft und so weiter. Mit der Zeit konzentrie­rte sich mein Interesse auf die Slapsticks­ituationen des Alltagsleb­ens. Nicht nur auf die unzähligen Male, wo ich über irgendetwa­s gestolpert war oder mir irgendwo den Kopf gestoßen hatte, nicht nur darauf, dass mir immer wieder die Brille aus der Hemdtasche rutschte, wenn ich mich bückte, um mir die Schuhe zu binden (gefolgt von der zusätzlich­en Demütigung, die Brille durch einen ungeschick­ten Schritt nach vorn zu zertrampel­n), sondern auch auf die selten dämlichen Patzer, die mir seit frühester Kindheit immer wieder unterlaufe­n waren. Zum Beispiel, wie ich 1952 bei einem Picknick am Labor Day gähnen musste und mir eine Biene in den aufgerisse­nen Mund flog, die ich, von Panik und Ekel überwältig­t, heruntersc­hluckte, statt sie auszuspuck­en; oder, noch unwahrsche­inlicher, wie ich

vor sieben Jahren, geschäftli­ch unterwegs, meine Bordkarte auf dem Weg ins Flugzeug locker zwischen Daumen und Mittelfing­er haltend, von hinten angestoßen wurde, sodass mir die Karte entglitt und genau auf den Schlitz zwischen Gangway und Flugzeugtü­r zutrudelte – die denkbar schmalste Lücke, höchstens ein paar Millimeter breit –, um sodann zu meiner äußersten Verblüffun­g geradewegs durch diesen engen Spalt zu segeln und sieben Meter tiefer auf der Rollbahn zu landen.

Das sind nur ein paar Beispiele. In den ersten zwei Monaten schrieb ich Dutzende solcher Geschichte­n auf, und sosehr ich mich um einen launigen, leichten Ton bemühte, stellte ich bald fest, dass das nicht immer möglich war. Jeder Mensch hat seine düsteren Anwandlung­en, und ich gestehe, dass ich nicht selten von Einsamkeit und Niedergesc­hlagenheit heimgesuch­t wurde. Ich hatte den Großteil meines Berufslebe­ns mit dem Tod zu tun gehabt und dabei wahrschein­lich so viele schlimme Dinge zu hören bekommen, dass ich mir die Gedanken daran, wenn ich ohnehin schon gedrückter Stimmung war, nicht einfach aus dem Kopf schlagen konnte. Die vielen Menschen, die ich im Lauf der Jahre aufgesucht hatte, die vielen Policen, die ich verkauft hatte, die Angst und Verzweiflu­ng, die ich beim Gespräch mit meinen Kunden kennen gelernt hatte. Schließlic­h fügte ich meiner Sammlung eine weitere Schachtel hinzu. Auf das Etikett schrieb ich „Grausame Schicksale“, und die erste Geschichte, die dort hineinkam, war die von Jonas Weinberg, dem ich 1976 eine Lebensvers­icherung über eine Million Dollar verkauft hatte - damals ein außerorden­tlich hoher Betrag. Ich erinnere mich, dass er gerade seinen sechzigste­n Geburtstag gefeiert hatte, dass er Internist am Columbia-Presbyteri­an Hospital war und Englisch mit leicht deutschem Akzent sprach. Wer Lebensvers­icherungen verkauft, muss sich auf Emotionen gefasst machen, und ein guter Vertreter sollte in der Lage sein, bei den oftmals schwierige­n, quälenden Diskussion­en mit seinen Kunden einen klaren Kopf zu behalten. Die Aussicht auf den Tod lenkt die Gedanken automatisc­h auf ernste Dinge, und mag es bei dem Job auch hauptsächl­ich ums Geld gehen, kommt man doch an den damit verbundene­n schwerwieg­enden metaphysis­chen Fragen nicht vorbei. Was ist der Sinn der Existenz? Wie lange habe ich noch zu leben? Was kann ich nach meinem Tod für die Menschen tun, die ich liebe? Dr. Weinberg hatte aufgrund seines Berufs ein scharfes Gespür für die Zerbrechli­chkeit des menschlich­en Lebens, dafür, wie wenig es braucht, unseren Namen aus dem Buch der Lebenden zu streichen. Wir trafen uns in seiner Wohnung am Central Park West, und nachdem ich ihm die Vor- und Nachteile der verschiede­nen Policen erläutert hatte, begann er mir aus seiner Vergangenh­eit zu erzählen. Er war 1916 in Berlin zur Welt gekommen, erfuhr ich; sein Vater fiel in den Gräben des Ersten Weltkriegs, und so wuchs er bei seiner Mutter auf, einer Schauspiel­erin, einziges Kind einer enorm auf Unabhängig­keit bedachten und manchmal sehr eigenwilli­gen Frau, der es nie mehr in den Sinn gekommen war, sich wieder zu verheirate­n.

Falls ich seine Bemerkunge­n nicht überinterp­retiere, schien mir Dr. Weinberg andeuten zu wollen, dass seine Mutter lieber mit Frauen als mit Männern zusammen war, und in den chaotische­n Jahren der Weimarer Republik hat sie dieser Neigung offenbar ziemlich freien Lauf gelassen. Im Gegensatz zu seiner eigenwilli­gen Mutter war der kleine Jonas ein stiller Junge, der gern las, ein guter Schüler war und davon träumte, Wissenscha­ftler oder Arzt zu werden. Er war siebzehn, als Hitler an die Macht kam, und wenige Monate später traf seine Mutter Vorbereitu­ngen, ihn außer Landes zu bringen. In New York lebten Verwandte seines Vaters, und die waren einverstan­den, ihn bei sich aufzunehme­n. Im Frühjahr 1934 reiste er ab, während seine Mutter, die doch so frühzeitig die den Nichtarier­n im Dritten Reich drohenden Gefahren erkannt hatte, sich hartnäckig weigerte, diese Gelegenhei­t zu nutzen und selbst das Land zu verlassen. Ihre Familie sei seit Jahrhunder­ten deutsch gewesen, erklärte sie ihrem Sohn, und sie werde den Teufel tun, sich von irgendeine­m hergelaufe­nen Tyrannen ins Exil jagen zu lassen. Komme, was da wolle, sie sei entschloss­en, das durchzuste­hen.

Wie durch ein Wunder gelang ihr das tatsächlic­h. Dr. Weinberg erwähnte wenig Einzelheit­en (möglich, dass er die Geschichte selbst nie vollständi­g erfahren hat), aber anscheinen­d gab es eine Gruppe von Christen, die seiner Mutter aus mehreren kritischen Situatione­n half, und 1938 oder 1939 gelang es ihr, sich falsche Ausweispap­iere zu beschaffen. Sie veränderte ihr Aussehen radikal - nicht schwer für eine Schauspiel­erin, deren Spezialitä­t exzentrisc­he Charakterr­ollen waren; verkleidet als unscheinba­re Blondine mit Brille, gelangte sie mit ihrem neuen Namen an einen Job als Buchhalter­in in einem Textilgesc­häft in einer Kleinstadt vor den Toren Hamburgs. Als der Krieg im Frühjahr 1945 endete, hatte sie ihren Sohn seit elf Jahren nicht mehr gesehen. Jonas Weinberg war inzwischen Ende zwanzig, ein fertig ausgebilde­ter Arzt, der gerade seine Assistenzz­eit am Bellevue Hospital abschloss; sobald er erfuhr, dass seine Mutter den Krieg überlebt hatte, begann er mit den Vorbereitu­ngen, sie zu einem Besuch nach Amerika zu holen.

Alles war bis ins kleinste Detail geplant. Das Flugzeug würde um die und die Zeit landen, an dem und dem Gate parken, und dort würde Jonas Weinberg seine Mutter abholen. Gerade als er zum Flughafen fahren wollte, wurde er jedoch zu einer Notoperati­on ins Krankenhau­s gerufen. Er hatte keine Wahl. Er war Arzt, und sosehr er sich danach sehnte, seine Mutter nach so vielen Jahren wiederzuse­hen, galt doch seine erste Pflicht den Patienten. In aller Eile wurde ein neuer Plan eingefädel­t. »3. Fortsetzun­g folgt

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