Auflösung aller Schnürsenkel
Dass nichts mehr sicher ist, gehört zu den zeitgemäßen Klagen. Verursacht wird diese Besorgnis nicht nur durch Einbrecherbanden und Donald Trumps Spontanentschlüsse, sondern auch durch die Auflösung aller Verhaltensregeln.
Nun hat sich die Wissenschaft mit einer besonders ärgerlichen Form der Auflösung beschäftigt: Forscher der Uni Berkeley untersuchten, weshalb sich festverknotete Schnürsenkel auflösen wie fest verankerte Sitten.
Nach Geh-, Lauf- und Sprungtests lösten die Wissenschaftler das Geheimnis des lösungswilligen Schnürsenkels: Beim ständigen Auftreten setzt die Schwerkraft dem Senkelknoten so massiv zu, dass er kapituliert und schließlich aufgibt.
Offenbar haben Politik und Werbung diese Wirkung von Dauertritten längst erkannt und angewendet. Dennoch bevorzugen zeitgenössische Kommandeure der Weltgeschichte den gewaltigen einmaligen Stoß. Ihr Rezept zur Auflösung aller verknoteten Probleme liegt im Erstschlag und in der „Mutter aller Bomben“.
Vielleicht hat Leibniz diese Handlungsweise vorausgeahnt, als er in seiner „Abhandlung über den menschlichen Verstand“den Satz niederschrieb: „Aber da die Wucht eines sehr starken Eindruckes oft ebenso viel Wirkung auf einmal hat, als die Häufigkeit und Wiederholung mehrerer mittelmäßiger Eindrücke in längerer Zeit hätten haben können, so geschieht es, daß diese Wucht in die Phantasie ein ebenso tiefes und lebhaftes Bild eingräbt.“