Paul Auster: Die Brooklyn Revue (78)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Ich bewunderte sie für die Tapferkeit, mit der sie sich von mir aus dem Buch menschlicher Torheiten vorlesen ließ und wie sie dann in ihrer gutmütigen Ahnungslosigkeit meine lumpigen Geschichten als Literatur ersten Ranges behandelte.
Ja, ich habe sie so sehr geliebt, wie das Gesetz (das Gesetz meiner Natur) es zuließ – aber war ich bereit, mit ihr den Rest meines Lebens zu verbringen? Wollte ich sie an jedem Tag der Woche sehen? War ich verrückt genug nach ihr, ihr die große Frage zu stellen? Ich war mir nicht sicher.
Nach der langjährigen Katastrophe mit Name gestrichen zögerte ich verständlicherweise, es noch einmal mit der Ehe zu versuchen. Aber Joyce war eine Frau, und da die überwältigende Mehrheit der Frauen die Zweisamkeit der Einsamkeit vorzuziehen scheint, glaubte ich ihr den Beweis schuldig zu sein, dass ich es ernst meinte. In einem der dunkelsten Augenblicke dieses Herbstes – zwei Tage nachdem Rachel eine
Fehlgeburt erlitten hatte, vier Tage nachdem Bush unrechtmäßig die Wahl gewonnen hatte und zwölf Tage bevor es Henry Peoples gelang, die verschollene Aurora aufzuspüren – gab ich meinen Widerstand auf und tat es. Zu meiner ungeheuren Überraschung reagierte Joyce auf meinen Heiratsantrag mit johlendem Gelächter. „O Nathan“, sagte sie, „lass den Quatsch. Wir haben’s doch gut so. Wozu daran rühren und uns womöglich in Schwierigkeiten bringen? Die Ehe ist was für junge Leute, die Kinder haben wollen.
Das haben wir längst hinter uns. Wir sind frei. Wir können vögeln wie die Weltmeister und werden nie mehr schwanger werden. Du brauchst nur zu pfeifen, Mann, und mein dicker italienischer Arsch steht dir zur Verfügung, okay? Du kriegst meinen Arsch, und ich kriege deinen hübschen jüdischen Du weißt schon. Du bist mein erster Jude, Nathan, und da du jetzt mal vor meiner Haustür geparkt hast, lass ich dich nicht wieder laufen. Du kannst mich haben, Baby. Aber das mit dem Heiraten schlag dir aus dem Kopf. Ich will keine Ehefrau mehr sein, und ich sag dir was, mein Süßer, mein kleiner Scherzbold, du taugst nicht zum Ehemann.“Trotz dieser harten Worte brach sie gleich darauf in Tränen aus – plötzlich überwältigt, verlor sie zum ersten Mal, seit ich sie kannte, die Kontrolle über sich. Ich nahm an, dass sie an ihren verstorbenen Tony dachte, sich an den Mann erinnerte, zu dem sie Ja gesagt hatte, als sie fast noch ein Mädchen gewesen war, den Ehemann, der ihr mit einundfünfzig Jahren gestorben war, die Liebe ihres Lebens.
Das mochte auch so sein, aber was sie dann zu mir sagte, war etwas vollkommen anderes. „Denk nicht, dass ich das nicht zu schätzen weiß, Nathan. Du bist das Beste, was mir seit langer Zeit passiert ist. Und jetzt das, jetzt gibst du mir das. Das werde ich dir nie vergessen, mein Engel. Ein altes Weib wie ich – und kriege einen Heiratsantrag. Ich will nicht heulen, aber Mann, Mannomann, dass du mich so gern hast, haut mich wirklich um.“
Ich war erleichtert, dass sie über meinen Antrag Tränen der Rührung vergoss. Denn das bedeutete, unsere Verbindung war etwas Solides, das nicht so bald in Stücke gehen würde. Aber ich muss zugeben, ebenso erleichtert war ich, dass Joyce mir einen Korb gegeben hatte. Ich hatte eine große Geste gemacht, aber ehrlich gesagt war ich da mit mir selbst nicht einig gewesen, und sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich in der Tat nicht zum Ehemann taugte.
Überhaupt hatten wir beide keinen Grund, zu heiraten. Und so stand denn, um den unsterblichen Magister Pangloss zu zitieren, alles zum Besten – zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich den Kuchen essen und doch behalten.
Joyce trocknete ihre Tränen, und zwei Wochen später wohnten Aurora und Lucy in ihrem Haus. Das war für alle Beteiligten eine vernünftige Lösung, aber so logisch es sein mochte, dass Mutter und Tochter wieder zusammenlebten, darf man nicht vergessen, wie schwer es Tom und Honey fiel, ihr junges Mündel ziehen zu lassen. Sie hatten sich seit Monaten um Lucy gekümmert, und im Lauf der Zeit waren die drei zu einer soliden kleinen Familie geworden.
Im Sommer, als ich sie in die Obhut der beiden gab, hatte ich selbst einen ähnlichen Schmerz empfunden, und dabei war sie nur wenige Wochen bei mir gewesen. Wenn ich an die fünfeinhalb Monate dachte, die sie mit ihr verbracht hatten, konnte ich nur mit ihnen mitfühlen – ganz gleich, wie glücklich wir alle waren, dass Aurora wohlbehalten in Brooklyn gelandet war. „Sie muss bei ihrer Mutter leben“, sagte ich zu Tom und versuchte mich in Lebensklugheit. „Aber ein Teil von Lucy bleibt bei uns, bei jedem Einzelnen von uns. Sie ist auch unser Mädchen, und daran wird sich nie etwas ändern.“
So hart es sie ankam, Lucy zu verlieren, hatte die kurze Zeit ihrer Ersatzelternschaft Tom und Honey immerhin davon überzeugt, dass sie eigene Kinder haben wollten. Vorläufig standen noch eine Menge praktischer Aufgaben an – sie mussten Harrys Haus verkaufen, sich eine neue Wohnung suchen, Bewerbungen für Lehrerjobs in der Stadt verschicken –, aber als das alles erledigt war, warf Honey ihr Diaphragma weg, und die beiden machten sich ans Werk, in nächtlicher Kleinarbeit den Grundstein für eine Familie zu legen.
Im März 2001 bezogen sie eine Eigentumswohnung in der Third Street zwischen Sixth und Seventh Avenue: luftige, lichtdurchflutete Räumlichkeiten im dritten Stock, mit einem großen Wohnzimmer nach vorne raus, einer bescheidenen Küche samt Esszimmer in der Mitte und einem schmalen Flur, der zu drei kleinen Schlafzimmern im hinteren Teil führte (von denen Tom eins zum Arbeitszimmer umbaute). Als sie sich in dieser Wohnung niederließen, gab es Brightman’s Attic nicht mehr.
Da der Käufer des Gebäudes unter anderem die Bedingung gestellt hatte, dass die Bücher aus den Geschäftsräumen entfernt werden sollten, hatte Tom zu Beginn des Jahres in hektischer Eile den gesamten Warenbestand von Harrys Laden veräußern müssen.
Taschenbücher wurden zu fünf oder zehn Cent, gebundene Bücher zu drei Stück für einen Dollar verschleudert, und was bis zum ersten Februar nicht verkauft war, wurde Krankenhäusern, Wohltätigkeitsorganisationen und Seemannsmissionen gespendet.
Ich half bei dieser kummervollen Arbeit, und auch wenn wenigstens die seltenen Bücher und Erstausgaben aus der zweiten Etage einen erheblichen Betrag einbrachten (selbst zu den Spottpreisen, die Tom akzeptierte, um die komplette Sammlung an einen einzigen Händler in Great Barrington, Massachusetts, loszuwerden), machte es wahrlich keinen Spaß, an der Zerschlagung von Harrys Reich mitzuwirken – vor allem, als ich erfuhr, was der neue Besitzer mit den aufgelösten Geschäftsräumen vorhatte.
»79. Fortsetzung folgt