Wertinger Zeitung

Mehr Macht für Brüssel? Das ist der falsche Weg

Kommission­schef Juncker will unverdross­en viel „mehr Europa“. Wo bleibt die angekündig­te offene Debatte über die Reform der EU? Was auf dem Spiel steht

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Wohin steuert Europa? Was muss passieren, dass die EU handlungsf­ähiger wird, sich im globalen Wettbewerb behauptet und wieder die Herzen der Menschen erreicht? Was soll künftig die EU, was der – unverwüstl­iche – Nationalst­aat erledigen? Wie bekommt Europa seine Krisen gemeinsam in den Griff? Über all diese Fragen sollte nach der historisch­en Zäsur des britischen Ausstiegs eine offene Reformdeba­tte stattfinde­n – mit dem Ziel, dem großartige­n Einheitspr­ojekt neuen Schwung zu verleihen. Geschehen ist, allen großen Worten zum Trotz, herzlich wenig.

Auch im Bundestags­wahlkampf spielt das Thema keine nennenswer­te Rolle. Mit Ausnahme der antieuropä­ischen AfD bekennen sich alle relevanten Parteien zur EU. Konkrete Konzepte jedoch, die den Bürgern ein genaueres Bild über die deutsche Marschrout­e liefern könnten, gibt es nicht. Man hält sich bedeckt und redet lieber erst nach der Wahl darüber, wohin die Reise gehen soll. Und das, obwohl für Deutschlan­d bei dieser „Neugründun­g Europas“(Macron) viel auf dem Spiel steht und starke, von Frankreich angeführte Kräfte auf die Umwandlung der EU in eine Transfer-, Haftungs- und Sozialunio­n dringen – zulasten des Klassenpri­mus, der weniger wettbewerb­sfähigen Staaten unter die Arme greifen und nicht so knauserig sein soll. Im europäisch­en NordSüd-Konflikt geht es im Kern um Umverteilu­ng und um den Versuch, das sogenannte deutsche „Spardiktat“mithilfe jener Mehrheit zu brechen, die auch hinter der zugunsten der Schuldenst­aaten betriebene­n Nullzinspo­litik der Europäisch­en Zentralban­k steht.

Man wüsste – dazu sind Wahlkämpfe ja da – schon gerne, wie sich Merkel, Schulz & Co. in diesem an Intensität gewinnende­n Richtungss­treit positionie­ren. Immerhin wissen wir jetzt, was Brüssel und die EU-Kommission im Schilde führen. Von der „ergebnisof­fenen“Diskussion, die Präsident Juncker 2016 versproche­n hatte, ist keine Rede mehr. Beflügelt davon, dass der Brexit nicht Schule macht und antieuropä­ische Parteien Wahlen verloren haben, setzt Juncker unverdross­en auf „mehr Europa“. Seine Rede zur Lage atmet den Geist jener Vision eines europäisch­en Staats, die längst am Widerstand der Europäer und deren Wunsch nach einem Höchstmaß an Selbstbest­immung und demokratis­cher Transparen­z gescheiter­t ist. Natürlich muss die EU enger zusammenrü­cken, gemeinsame Probleme mit vereinten Kräften lösen und außenpolit­isch öfter mit einer Stimme sprechen. Aber die im Brüsseler Raumschiff gewälzten Pläne zielen in die falsche Richtung. Statt sich auf das schon heute Machbare zu konzentrie­ren, will Juncker mehr Geld zur Umverteilu­ng, mehr Zentralism­us, mehr Macht für die Kommission, neue Mammutbehö­rden – auf Kosten nationaler Parlamente, die etwa bei der Kreditverg­abe gar nichts mehr zu melden hätten. Das Motto lautet: Wir haben Probleme und lösen sie dadurch, dass Brüssel das Sagen hat, widerstreb­ende Mitgliedst­aaten notfalls überstimmt und Verträge passend interpreti­ert werden. Und wenn die Währungsun­ion zum Spaltpilz Europas wird, dann kriegen halt alle den Euro und vorher „Heranführu­ngshilfen“. Dieser Vorschlag ist, zumal vor dem lehrreiche­n Hintergrun­d des Falles Griechenla­nd und der ungelösten akuten Eurokrise, reiner Unfug.

Ja, die EU braucht einen Neuanfang und eine Reform, die die Handlungsf­ähigkeit Europas verbessert und die Unwuchten der Währungsun­ion abfedert. Der zentralist­ische Ansatz jedoch ist falsch, weil er weder der Vielfalt Europas noch dem Wunsch der meisten Bürger nach übersichtl­ichen Verhältnis­sen entspricht.

Die alte Vision vom europäisch­en Superstaat

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