Das Empfangskomitee vor der Schule
Zum Entsetzen von Lehrern, Schulleitern und der Polizei werden immer mehr Kinder mit dem Auto abgeholt oder gebracht. Experten warnen vor der Generation „Rücksitz“
Landkreis Wenden auf dem Gehweg, Parken im absoluten Halteverbot, Gasgeben gegen die erlaubte Fahrtrichtung – vor vielen Schulen spielen sich jede Früh chaotische Szenen ab. Ohne Rücksicht auf zu Fuß gehende Kinder und Erwachsene reiht sich SUV an SUV und setzt blechstark seinen Weg durch die Menschenmenge fort: Die Elterntaxis sind wieder da. So werden die Autos genannt, in denen oft besorgte und gestresste Eltern mit ihren Kleinen sitzen und die wertvolle „Fracht“im Rücken am liebsten erst vor der Eingangstür zur Schule in die Freiheit entlassen wollen. Regelmäßig schlagen Erziehungswissenschaftler, Pädagogen und Ordnungshüter Alarm, weil die Mütter und Väter dabei sich und die Allgemeinheit gefährden.
„Immer mehr Eltern wollen möglichst nahe ans Gebäude heran“, berichten die Kollegen von der schulischen Verkehrserziehung der Pressesprecherin der Polizeiinspektion Dillingen, Katharina von Rönn. Warum die Beamten gerade in diesen Tagen wieder verstärkt auf den Schulwegen Präsenz zeigen, weiß die Polizeihauptmeisterin nur allzu gut: „Wir müssen Schüler und Eltern auf die Gefahren im Schulalltag hinweisen.“So, wie das auch an Elternabenden und anderen Informationsveranstaltungen geschieht (siehe Textkasten). Während solche Ratschläge theoretisch vernünftig und klug klingen, setzt sich in der Praxis das Gegenteil davon durch. Da werden jeden Morgen Busspuren zugeparkt, die Kleinen auf der belebten Straßenseite der Fahrzeuge rausgelassen und riskante Umkehr- wie Anhaltemanöver hingelegt. Von Rönn: „Bei allem Verständnis für die um ihre Kinder besorgten Erwachsenen und manche praktischen Gründe, weil man halt auf dem Weg zur Arbeit ist, so etwas geht nicht.“
Die gefährlichen Tabubrüche werden allerdings in keiner Statistik vermerkt, auch in den amtlich registrierten Schulwegunfällen kommen Elterntaxis nicht vor. Laut Katharina von Rönn kam es im Landkreis Dillingen im Zeitraum von September 2016 bis heute zum Glück nur zu vier Vorfällen, bei denen radelnde Kids involviert waren.
Anderen offiziellen Quellen wie etwa der Verkehrspolizei Augsburg zufolge waren bei den rund 800 Zwischenfällen in ganz Bayern im vergangenen Jahr die meisten Betroffenen Buben und Mädchen, die im Auto ihrer Eltern saßen. Der ADAC setzt die Folgen für die kleinen Insassen in einer Studie sogar noch höher an.
Doch von ganz großen Schäden der besonders gemeinen Art berichtet der aus Nordrhein-Westfalen stammende Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch. Er beschäftigte sich mit den Transporten, die seinen Erkenntnissen nach zum größten Teil nur eine Entfernung zwischen zu Hause und Schule von weniger als einem Kilometer vorweisen können: „Was manche Eltern da jeden Morgen veranstalten, ist eine Katastrophe für die Eigenverantwortung der Kinder.“
Für den Autor des Buches „Die Verwöhnungsfalle“stellt die Verkehrssicherheit dabei das kleinere von zwei Problemen dar. Denn viel schwerwiegender sei, dass die Erwachsenen ihren Kleinen den Schulweg einfach nicht zutrauten: „Damit vermasseln sie Erfahrungen, die die Kinder unbedingt machen sollten.“Das würde der Leiter des Schulamtes in Dillingen, Wilhelm Martin, jederzeit unterschreiben. „Die unglaubliche Dichte zwischen morgens 7.35 Uhr und 7.55 Uhr wird auch von unnötigen Fahrten erzeugt.“Der Schulamtsdirektor appelliert, zu Be- ginn den Nachwuchs schon gewissenhaft einzuweisen: „Irgendwann muss man auch Selbstständigkeit üben. Zudem sollte jedem bekannt sein, dass der Mensch bei Bewegung an frischer Luft besser lernen kann.“
Die Realität dagegen sei oft eine Rundumbetreuung, möglichst „mit rotem Teppich und einem Empfangskomitee vor dem Schulhaus“. Obwohl auch in diesem Schuljahr durch falsches Verhalten ein Chaos entsteht, in dem vor allem jüngere Kinder die Übersicht verlieren können, hat der Bildungsexperte die Hoffnung nicht aufgegeben. Martin verweist etwa auf die höchst erfolgreiche Aktion „Fit zur Schule – fit beim Lernen! Laufe oder radel“vor drei Jahren.
Bei der Initiative von Schul- und Gesundheitsamt, an der fast 2000 Schüler aller Einrichtungen im Landkreis teilnahmen, wurden zu Fuß oder per Drahtesel zurückgelegte Touren mit einem Stempel und Preisen wie Rucksäckle und Büchern honoriert.
„Gesundheitsförderung ist schon in jungen Jahren wichtig“, hatte Landrat und Hobbysportler Leo Schrell der von den Schülern begeistert aufgenommenen Maßnahme Beine gemacht. Neben Bewegung und frischer Luft hebt die Leiterin der Wertinger Grundschule, Christiane Grandé, den sozialen Gewinn eines selbst erlebten Gangs zum Unterricht hervor.
„Sie knüpfen dabei auch wichtige Kontakte“, meint die Rektorin und ist sich damit mit ihrer Kollegin von der Peter-Schweizer-Grundschule in Gundelfingen, Claudia Heger, einig. Beide setzen gegen zu viele „Taxis“vor dem Schulhof auf die Aufklärung der Eltern bei Informationsabenden. Heger sorgt sich zudem um die immer wieder blockierten Lehrerparkplätze. Schule ohne Lehrkraft geht nun mal nicht.