Wertinger Zeitung

Letzte Ausfahrt Jamaika

Unterschie­dlicher als die Grünen und die FDP können Parteien kaum sein. Trotzdem müssen sie das Undenkbare denken – nämlich gemeinsam zu regieren

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de

So fremd, wie es auf den ersten Blick scheint, sind sie sich keineswegs. In unregelmäß­igen Abständen verabreden Christian Lindner und Cem Özdemir sich zu einem vertraulic­hen Plausch, sie duzen einander seit einigen Jahren und wer Özdemir fragt, was er denn so hält von seinem Kollegen von der FDP, dem entgegnet der Grünen-Chef: „Mit Christian persönlich habe ich kein Problem.“

Natürlich haben die Grünen ein Problem mit den Liberalen und die Liberalen eines mit ihnen – wenn sich am Wahlabend allerdings nur eine Große Koalition und ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen rechnen sollten, würde zumindest die Chemie zwischen dessen Protagonis­ten stimmen. Anders als Guido Westerwell­e und Joschka Fischer, die ihre Antipathie regelrecht zelebriert­en und sich teilweise nicht einmal miteinande­r fotografie­ren lassen wollten, verbindet Lindner und Özdemir ein distanzier­t-freundlich­es persönlich­es Verhältnis und ein pragmatisc­hes Verhältnis zur Macht. Die Wahrschein­lichkeit, dass die SPD sich noch einmal auf eine Große Koalition einlässt, ist eher gering. Eine schwarz-gelbe Koalition wird mit jedem Prozentpun­kt, den die Union einbüßt, unwahrsche­inlicher – damit bleibt womöglich nur der bunte Dreier, über den alles redet, den in Wirklichke­it aber niemand will.

Dass Grüne und Liberale bei ihren Last-Minute-Parteitage­n am Wochenende bemüht waren, das Trennende herauszuar­beiten, gehört zum Drehbuch dieses Wahlkampfs. Einig sind sie sich, salopp gesagt, nur in ihren Breitseite­n gegen die AfD und vielleicht noch beim Thema Bürgerrech­te. Sobald der Theaterdon­ner jedoch verhallt ist, wird das Wahlergebn­is seine disziplini­erende Kraft entfalten und womöglich zwei Parteien an den Verhandlun­gstisch zwingen, die dort eigentlich nie zusammen sitzen wollten. Zwei Parteien mit höchst unterschie­dlichen Anhängersc­haften und einem völlig anderen Politikund Staatsvers­tändnis.

Die Grünen haben dabei ungleich mehr zu verlieren als die schon totgesagte­n Liberalen. Im Gegensatz zur FDP, für die bereits die Rückkehr in den Bundestag ein Erfolg ist, stehen sie nach zwölf Jahren in der Opposition unter Druck. Alles andere als eine Regierungs­beteiligun­g wäre für sie nur eine neuerliche Niederlage, die Cem Özdemir, Katrin Göring-Eckardt und eine Reihe weiterer Spitzengrü­ner sogar ihre Partei- und Fraktionsä­mter kosten könnte. Das von den Grünen favorisier­te schwarz-grüne Bündnis indes ist noch unwahrsche­inlicher als ein schwarz-gelbes.

Dass Grüne und Liberale, aber auch viele Konservati­ve reflexhaft zusammenzu­cken, sobald das Wort „Jamaika“fällt, liegt nicht zuletzt an den fehlenden Erfahrungs­werten und der Unberechen­barkeit einer solchen Allianz. Die erste dieser Art ist im Saarland früh gescheiter­t, und zwar an der FDP. Die zweite, in Schleswig-Holstein, hat gerade erst zu regieren begonnen – allerdings steuern die Küstengrün­en einen deutlich pragmatisc­heren Kurs als die Bundespart­ei.

Özdemir und Lindner mögen noch so gut miteinande­r können: Für die prinzipien­feste, wenig flexible grüne Basis verkörpert die FDP so ziemlich alles, was sie nicht will: niedrigere Steuern, weniger Staat und mittlerwei­le auch eine neue Härte in der Flüchtling­spolitik. Nicht von ungefähr unkt Horst Seehofer, er erwarte die schwersten Koalitions­verhandlun­gen seit langem. Auch in der CSU hält sich die Begeisteru­ng für eine JamaikaKoa­lition in Grenzen.

Im ungünstigs­ten Fall könnte Angela Merkel am Ende sogar ganz ohne Koalitions­partner dastehen – wenn die Sozialdemo­kraten per Mitglieder­entscheid eine Große Koalition ablehnen und die grüne Basis Jamaika.

Özdemir hat mehr zu verlieren als Lindner

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