Wertinger Zeitung

Wie geht’s uns denn?

Am Sonntag haben die Deutschen die Wahl. Was ist den Menschen wirklich wichtig? Wir sind einfach mal losgefahre­n und haben zugehört. Eine Suche nach Politikern mit Format, nach schnellem Internet, dem Aufschwung und einem Kinderarzt für Magdalena

- VON MICHAEL STIFTER

Augsburg Dieter Schweiger macht die Augen zu. Ein paar Sekunden Ruhe. Ist eh nicht viel los heute. Es regnet, und da sind die Leute dann nicht so, dass sie gerne stehen bleiben. Auf einen kurzen Plausch oder um ein paar Himbeeren zu kaufen. Sie schalten unter ihrem Schirm auf Autopilot. Schnell weiter über die Ampel, runter in die U-Bahn oder rüber an die Uni. Den weiß-blau gestreifte­n Stand von Dieter Schweiger, den sie hier alle nur Obststandl­Didi nennen, nehmen sie kaum wahr. Dem 58-Jährigen macht das nichts aus. „Ich kann mich nicht beklagen“, sagt der Mann mit dem grauen Seitensche­itel und der Filzjacke. Er ist das, was man als Münchner Original bezeichnet. Nun kann man sich natürlich fragen, was das eigentlich heißen soll. Und was die anderen dann sind? Fälschunge­n? Jedenfalls verspricht das Wort Original, dass es von einer Sorte nicht mehr besonders viele gibt. Und das trifft auf den Didi in jedem Fall zu.

Seit 1984 betreibt er nun schon diesen Stand in der Maxvorstad­t, auf dem Fußweg direkt am U-BahnEingan­g. Und wenn man sich mit ihm unterhält, dann ahnt man auch, wie er das geschafft hat. Der Didi kann einfach mit den Leuten. Sofort ist man beim Du. Schnell gibt er einem das Gefühl, als würde man sich schon Jahre kennen, oder zumindest ein paar Tage. Dem desorienti­erten Touristen erklärt er in einer Art Bavarian-English den Weg. Einem jungen Mann mit Fahrrad nimmt er die Bestellung quasi aus dem Mund: zwei Bananen. Wie immer halt. Manche kommen auch einfach nur zum Ratschen vorbei. Am liebsten über Fußball. Denn der Obstverkäu­fer ist, wie es sich für ein Münchner Original gehört, Anhänger des TSV 1860. Aber auch in der Politik kennt er sich aus.

Den „Seehofer Horst“mag er. Und dass der CSU-Chef öfter mal seine Meinung ändert, ist dem Didi immer noch lieber als Politiker, die stur bei ihrem Plan bleiben und nicht zugeben können, dass sie sich mal geirrt haben. „Also Seehofer: guter Mann. Besser als der Stoiber“, sagt er und macht eine kurze Pause. „Aber der Franz Josef Strauß – unerreicht, auch wenn er natürlich ein Bazi war!“Überhaupt fehlen ihm heute „gscheite“Politiker, Charakterk­öpfe, an denen man sich reiben kann. Der Helmut Schmidt sei so einer gewesen. Obwohl er von der falschen Fakultät war. Weil als anständige­r Bayer, sagt der Didi, wählt man natürlich die CSU. Und Angela Merkel? „Ja mei“, sagt er und schnauft. Eigentlich sei er ja schon ein bisschen stolz auf die Kanzlerin, wie sie das so schafft im Ausland, mit den ganzen mächtigen Männern auf Augenhöhe. Aber das mit den Flüchtling­en, das hätte sie nicht so unkontroll­iert machen dürfen. Natürlich müsse man den Leuten helfen, freilich. Aber übertreibe­n dürfe man es eben auch nicht mit der Hilfsberei­tschaft. Vor allem nicht, wenn das Geld dann für die eigenen Bürger fehlt.

Mit den Merkel-muss-weg-Leuten von der AfD will er trotzdem nichts zu tun haben. Weil: „Das sind doch bloß Miesmacher und ich bin ein positiver Mensch, in Deutschlan­d geht’s uns doch saugut.“Und außerdem: „Die CSU ist für meinen Bedarf schon rechts genug.“Was er von der nächsten Regierung erwartet? Vor allem, dass sie das Bargeld nicht abschafft. Das sei ein „kompletter Schmarrn“und für ihn als Standbetre­iber „eh ein Wahnsinn“.

Irene Kipfmüller muss lachen. „Schnelles Internet? Da sind sie bei uns ganz falsch“, sagt sie und winkt Die 49-Jährige lebt in einem Örtchen, das man nicht anders als idyllisch nennen kann. Nur ein paar Häuser, viel Grün, viele Tiere. Umgeben von Wald und Hügeln liegt ihr Bauernhof in Unterappen­berg am Rande des Nördlinger Rieses. Erst vor kurzem hat die Familie den Betrieb mit 150 Milchkühen modernisie­rt. Neuer Stall, zwei neue Melk-Roboter, nur die Kommunikat­ion ist immer noch aus einem anderen Jahrhunder­t. „Wenn mein Mann ins Internet will, schaltet er vor dem Mittagesse­n den Computer an und nach dem Essen schaut er, ob schon eine Verbindung da ist“, erzählt Kipfmüller. Klingt kurios, ist aber für einen landwirtsc­haftlichen Betrieb ein echtes Problem. Der ganze Papierkram mit den Ämtern oder mit Brüssel läuft heute online. Aber Unterappen­berg ist offline. Manchmal geht gar nichts. Als eine Nachbarin ein Häuschen vermieten wollte, sagten ihr gleich reihenweis­e Bewerber ab. Kein Handynetz, kein schnelles Internet? Nein, dann lassen wir das lieber.

Neulich streikte einer der neuen Melk-Roboter der Kipfmüller­s. Ein Garantiefa­ll. Eigentlich kein Problem. Man muss nur schnell ein Formular des Hersteller­s im Internet herunterla­den und ausfüllen. Ging nicht. Nicht schnell. Und nicht einmal langsam. Datenmenge zu groß. Verbindung abgebroche­n. Und als Sohn Markus Bewerbunge­n per Mail verschicke­n wollte, musste er zur Tante fahren. Telefonier­en per Handy geht manchmal in der Küche, manchmal an einer Kreuzung im Dorf, manchmal auch hinab. ter dem Stall. Man braucht halt ein bisschen Glück. Und wenn die Kinder Nachrichte­n über ihr Smartphone verschicke­n oder empfangen wollen, müssen sie dafür auf einen Hügel außerhalb des Ortes fahren.

Dieses Bayern will ein HightechLa­nd sein? Dieses Bayern feiert sich, dass auch der kleinste Ort digital erschlosse­n wird? Ein bisschen im Stich gelassen fühlen sich die Kipfmüller­s schon manchmal. Aber sie tragen es mit Fassung. Neulich war ja immerhin der bayerische Finanzmini­ster da. Er hatte einen symbolisch­en Scheck dabei. Noch in diesem Jahr soll Unterappen­berg internetmä­ßig in die Moderne katapultie­rt werden. Oder spätestens im nächsten. Heißt es. Die Kipfmüller­s warten. Das sind sie ja gewohnt.

Engin Keçeli sitzt in seinem Taxi und schüttelt den Kopf. Dass es Deutschlan­d so gut gehen soll wie nie, kann er nicht glauben. Die Ampel schaltet auf Grün. „Bei uns kommt dieser Wirtschaft­sboom, von dem jetzt im Wahlkampf alle reden, jedenfalls nicht an“, sagt er und lenkt das Auto durch eine Baustelle. „Wir kriegen den Mindestloh­n von 8,84 Euro in der Stunde und müssen schauen, wie wir über die Runden kommen – dass das für eine Familie mit zwei Kindern eng wird, können Sie sich vorstellen“, sagt er in perfektem Deutsch. Keçeli kam schon im Alter von drei Jahren aus der Türkei nach Ulm. Er ist hier zur Schule gegangen, hat eine Ausbildung gemacht, sich gut integriert. Seine Kinder sind in Deutschlan­d geboren, die Familie fühlt sich hier zu Hause. Trotzdem ist der Taxifahrer mit den Gedanken in letzter Zeit oft in seiner Heimat. Dass sich das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschlan­d so dramatisch verschlech­tert hat, macht ihm Sorgen. „Mein Sohn wird in der Schule von den Lehrern auf Erdogan angesproch­en – er muss sich für Dinge rechtferti­gen, mit denen er überhaupt nichts zu tun hat“, erzählt er. Dass die Stimmung so eskaliert ist, könne man nicht nur dem türkischen Präsidente­n anlasten. „Die Reaktionen aus der Türkei fallen sicher heftig aus, aber die Deutschen haben schon auch ihren Anteil“, findet der 45-Jährige. Er atmet tief durch und parkt seinen Mercedes Diesel vor dem Ulmer Münster. Ach ja, das mit dem Diesel, sagt er noch beim Aussteigen, das sei übrigens eine Unverschäm­theit. „Die Autoindust­rie hat uns jahrelang betrogen.“Keçeli versteht vor allem nicht, warum die Kunden in den USA mit Milliarden entschädig­t werden, die deutschen Autokäufer aber praktisch leer ausgehen. „Und das soll gerecht sein?“

Die Sonne gibt noch einmal alles. Kuhglocken läuten den Herbst ein, aber noch liegt eine letzte Ahnung von Sommer in der Luft. Auf der Terrasse eines Berggastho­fes bei Ofterschwa­ng, in dem es einen grandiosen Pflaumenst­reuselkuch­en gibt, sitzen Jenny Brandner und Andreas Schratt und erzählen Freunden von ihrem neuen Leben. Ihrem Leben mit Kind. Sechs Wochen ist es her, dass aus dem Paar eine kleine Familie wurde. Töchterche­n Magdalena scheint diesen Platz an der Sonne in den Oberallgäu­er Bergen auch zu mögen. Sie schlummert

„Seehofer? Guter Mann. Besser als der Stoiber. Aber der Franz Josef Strauß – unerreicht, auch wenn er natürlich ein Bazi war!“ Obststandb­etreiber Dieter Schweiger „Wir kriegen den Mindest lohn von 8,84 Euro. Bei uns kommt der Wirtschaft­sboom, von dem jetzt alle reden, jedenfalls nicht an.“ Taxifahrer Engin Keçeli

friedlich auf Papas Arm. Es gibt keine Partei, die in diesem Wahlkampf nicht offensiv um die Familien wirbt. Das ist den beiden auch schon aufgefalle­n, jetzt, da sie selbst Eltern sind. Was ihnen besonders wichtig ist? Zum Beispiel die Sache mit der Betreuung.

Kinderkran­kenschwest­er Jenny will zwar erst mal zwei Jahre Pause von ihrem Beruf machen. Aber man weiß ja nie, was kommt, vielleicht steigt sie auch schrittwei­se schon früher wieder ein. Deshalb haben sich die beiden sicherheit­shalber schon mal um das Thema Kita gekümmert. Das war gar nicht so einfach. Um einen Platz in der Nähe zu bekommen, mussten sie Magdalena anmelden, bevor sie überhaupt geboren war. So geht es vielen Familien. In den Kindergärt­en rund um Ofterschwa­ng ist es nicht besser, dort müssen sich die Erzieherin­nen um immer mehr Buben und Mädchen gleichzeit­ig kümmern.

Auch die Suche nach einem Kinderarzt kann in ländlichen Regionen durchaus zum Problem werden. „Alle Kinderärzt­e hier haben momentan einen Aufnahmest­opp“, erzählt die 30-Jährige. Gerade beim ersten Kind, wenn die Eltern in vielem noch unsicher sind, ist ein Arzt, dem sie vertrauen, Gold wert. Schließlic­h geht es schon in den ersten Wochen um so wichtige Fragen wie die nach den Impfungen. Noch so ein Thema in diesem Wahlkampf: die Impf-Pflicht. Jenny hat eine klare Meinung dazu: „Ich finde, Babys sollten gegen bestimmte ansteckend­e Krankheite­n geimpft werden müssen.“

Nach einem Monat gemeinsame­r Elternzeit geht Familienva­ter Andreas inzwischen wieder arbeiten. Doch der 29-jährige Steuerbera­ter kann sich seine Zeit zum Glück so flexibel einteilen, dass er immer für Magdalena da sein kann, wenn sie ihn braucht. Sein Chef hat Verständni­s dafür, dass es Momente gibt, in denen das Kind vorgeht. So funktionie­rt die Vereinbark­eit von Familie und Beruf, die alle Parteien verspreche­n, also in der Praxis.

 ??  ?? München: Dieter Schweiger, den alle nur „Obststandl Didi“nennen, ist eigentlich stolz auf die Kanzlerin. Doch ihre Flüchtling­spolitik sieht er kritisch.
München: Dieter Schweiger, den alle nur „Obststandl Didi“nennen, ist eigentlich stolz auf die Kanzlerin. Doch ihre Flüchtling­spolitik sieht er kritisch.
 ??  ?? Unterappen­berg: Irene Kipfmüller lebt in einem Dorf, das von der digitalen Zukunft nur träumen kann. Handy oder Internet? Manchmal geht gar nichts.
Unterappen­berg: Irene Kipfmüller lebt in einem Dorf, das von der digitalen Zukunft nur träumen kann. Handy oder Internet? Manchmal geht gar nichts.
 ??  ?? Ulm: Engin Keçeli kam als Dreijährig­er hierher. Dass das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschlan­d so angespannt ist, macht ihm große Sorgen.
Ulm: Engin Keçeli kam als Dreijährig­er hierher. Dass das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschlan­d so angespannt ist, macht ihm große Sorgen.
 ?? Fotos: Michael Stifter ?? Ofterschwa­ng: Jenny Brandner und Andreas Schratt wollen das Beste für Töchterche­n Magdalena. Tut der Staat genug für Familien?
Fotos: Michael Stifter Ofterschwa­ng: Jenny Brandner und Andreas Schratt wollen das Beste für Töchterche­n Magdalena. Tut der Staat genug für Familien?

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